Wer wir sind
man erträgt. Was, wenn man nicht mehr hochkäme?
Harro jedenfalls hat überlebt. Und inzwischen ist ihm alles verziehen. Staat und Partei tragen es ihm nicht mehr nach, dass sie seinen Freund ermordet und ihn selbst misshandelt haben. Man vertraut ihm offenbar: Der Fliegeroffizier Harro Schulze-Boysen hat Zugang zu geheimen Projekten, vertraulichen Papieren. Harros Dienstherr Göring hat Libertas in die Wange gekniffen.
Der Reichsluftfahrtminister und Reichsjägermeister Hermann Göring ist ein alter Freund von Libs’ Onkel Büdi. Er weilt regelmäßig oben im Schloss. Von seinem eigenen Anwesen Carinhall in der Schorfheide sind es ja kaum sechzig Kilometer bis hierher nach Liebenberg im Löwenberger Land, wo es das herrlichste Damwild gibt, manchmal reitet auch Libertas mit auf die Jagd. Am Abend wird die Strecke auf dem Schlosshof verblasen, bei Fackelschein. Gemeinsam schreitet man sie ab, um vor dem Essen die erlegte Beute zu begutachten.
»Aber Kindchen«, hat Göring gesagt. »Was behaupten Sie da! Ihr Mann kommt nicht recht voran, nur wegen dieser alten Geschichten? Na, das wollen wir doch mal sehen. Ist doch an sich ein wackerer Bursche, dieser Schulze-Boysen. Ein Großneffe von Admiral Tirpitz, wenn ich mich nicht irre. Wie alt war er, bei dieser leidigen Sache damals? Drei-, vierundzwanzig? Aber bitte. Lässliche Jugendsünden.«
Vom See weht ein Luftzug herüber, wie ein Atemhauch.
»Also was meint ihr?«, sagt Harro. »War Pedro im Recht? Das, scheint mir, ist die entscheidende Frage, jedenfalls bei dieser neuesten Version der Geschichte. Ist der Indianer wirklich umsonst gestorben?«
»Nein«, sagt Libs. »Nein, niemals, Harro. Das darf ja nicht sein. Das kann ich nicht glauben. Ich glaube niemals, dass er umsonst gestorben ist. Ich glaube nicht, dass er überhaupt tot ist. Ich glaube, er ist hier bei uns, tief unten in unserer Lanke.«
Marta macht eine Bewegung des Unmuts.
»Er ist jedenfalls gescheitert«, sagt Kurt.
Er spricht aus den Tiefen von Elisabeths Rock.
»Der Indianer ist gescheitert«, sagt Kurt. »So viel ist klar. Aber darauf kommt es nicht an. Nur weil etwas scheitert, muss es noch lange nicht umsonst gewesen sein.«
»Da seht mal«, sagt Elisabeth. »Der Mond.«
Alle drehen sich um. Der neue Mond hängt über den Baumwipfeln, dünn und grellweiß, eine scharfe Klinge. Elisabeth beginnt leise zu summen,
Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen –
Elisabeths Summen klingt wunderbar tröstlich. Es klingt nach Abendgebet, nach warmer Honigmilch und sorglich festgestopften Decken. Sie werden alle still. Sie schließen die Augen oder blicken versonnen in das erlöschende Feuer. Die Frauen summen leise mit,
Wollst endlich sonder Grämen,
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod,
Und wenn du uns genommen,
Lass uns in Himmel kommen –
Libs springt auf.
Sie schüttelt sich, wie ein Hündchen. Sie schüttelt die Stimmung des Liedes ab, steigt über Günthers Beine hinweg, klettert über Kurt Schumacher, taucht hinten in einem der Zelte unter. Taucht einen Moment später wieder auf, mit ihrem berühmt-berüchtigten Akkordeon, sie lässt es einmal aufkreischen wie ein kranke Katze. Dann stimmt sie eines ihrer Lieblingslieder an,
Vor zwee Jahren im Aujust
habe ick noch nicht jewusst,
dass ick heute Klagelieder singen muss –
Fredy Siegs »Lied von der Krummen Lanke«. Sie richten sich auf. Sie strecken sich, holen Luft wie befreit. Einer nach dem anderen fallen sie in das Lied ein,
Ach, der erste Kuss war scheen,
darum blieb’s nich bei dem een,
denn een Kuss alleene hat ja nich viel Zweck!
Sie erheben die Stimmen. Jetzt hat Libs sie. Alle singen, auch Marta. Harro lacht. Er wirft noch einmal Zweige aufs Feuer. Günther stochert den Brand an, ist denn noch Wein da? Aber sicher: der Rote, aus dem Keller des alten Fürsten. Libs steht vor ihnen allen und singt.
Emma küsste mit Jefühl,
und die Nacht, die war so schwül –
Sie ist vierundzwanzig Jahre alt. Ihre Stimme ist hoch, ein wenig schrill. In der Dunkelheit schimmern ihre nackten Arme. Das Instrument hustet auf und setzt erneut an, dramatisch und mit Witz,
– und der letzte Zug war sowieso schon weg!
Der See rauscht auf, im Nachtwind. Das dunkle torfige Wasser: in dessen Tiefe irgendwo Günthers toter Indianer schläft.
Auch Harro weiß im Übrigen nichts von dem geplanten Putsch anlässlich der Sudetenkrise. Dabei haben er und der Frontkämpfer, Journalist und Abwehrmann
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