Wer wir sind
gehaust haben, gehören ja gar nicht den Juden, sondern Ariern! Ganz gewöhnlichen braven Volksgenossen. Die Judensind dort nur Mieter oder Pächter. Das heißt, die Versicherungen werden diese riesigen Schäden bezahlen müssen.«
»Es ist entsetzlich«, sagt die Direktrice des Modehauses Schöning zu Frau Doktor Engelbrecht. »Diese abstoßende Rohheit. Aber bitte, sie hätten sich doch auch nicht so breitmachen müssen. Sie hätten sich etwas zurückhalten können. Man trifft ja kaum noch einen Deutschen, in manchen Gegenden. Man fühlt sich gar nicht mehr wie im eigenen Land. Am Kudamm sind doch fast alle Geschäfte in jüdischer Hand.«
»Ick weeß nich, ick weeß nich«, sagt Frau Schmittke vom Gemüseladen zu Herrn Schmittke. »Ick kann se ja ooch nich leiden, die Juden. Aba det jing mir denn doch zu weit. Det sind doch trotzdem immer noch Menschen.«
»Was hast du denn da?«, sagt Udo Peters zu seiner Frau. »Das Kleid kenne ich doch noch gar nicht.«
»Vom Juden«, sagt Hilde Peters verschämt. »Gefällt es dir?«
»Wie, vom Juden.«
»Na, drüben von Spiegelberg. Da haben sie doch die Fenster eingeworfen. Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Wenn ich das Kleid nicht genommen hätte, hätte Trudchen Grohte es sich unter die Nägel gerissen, die war ja auch da. Weggekommen wäre es auf jeden Fall.«
Gestern Abend hat Klaus Bonhoeffer im Kinderzimmer Dürers Stich ›Ritter, Tod und Teufel‹ aufgehängt. Emmi ist erschrocken. Sie hat Klaus gefragt, was er sich bei solchem Wandschmuck denkt.
»Warum?«, hat Klaus gesagt. »Es ist ein gutes Bild. Es ist wichtig für Kinder, mit guten Bildern aufzuwachsen.«
»Ja«, hat Emmi gesagt. »Aber es sind Kinder. Glaubst du nicht, dass du sie erschreckst, mit solchem Bild?«
»Ach?«, sagte Klaus. »Ja, freilich. Es wird ihnen schon etwasungewohnt sein. Unsere Zeit neigt dazu, den Teufel mit dem Kavaliersdegen abzubilden, elegant im rot-schwarzen Seidenumhang. Aber das Mittelalter hat ihn klarer erkannt. Das Böse ist ein Schleim, ein ekelhafter Pilz, der alles überzieht. Wer das erkennt, wer den Teufel wirklich erkennt, dem fällt die Wahl zwischen Tod und Teufel nicht schwer.«
»Tod und Teufel. Was ist das denn für eine Wahl? Klaus, es sind Kinder. Sie müssen doch das Leben wählen können.«
Klaus hat Emmi einen Moment lang betrachtet.
»Nun ja. Sicher, das Leben.«
Dann ist er weicher geworden. Er hat den Arm um sie gelegt.
»Der Ritter ist ja nicht allein. Er wird von seinem Hund begleitet. Er hat seinen Hund, und er hat sein Pferd.«
Dann hat er sie losgelassen. Er ist aus dem Zimmer gegangen, den Hammer in der Hand.
Oda sieht auf die Uhr. Sie hat noch eine halbe Stunde Zeit, sich umzukleiden und zu schminken. Sie steht im Schlafzimmer der Gastgeber, das ihr als Garderobe zur Verfügung gestellt worden ist: Dies ist eine Privatvorführung. Warum schreckt man immer ein wenig davor zurück, anderer Leute Schlafzimmer zu betreten? Es ist fast, als hinterließen sie etwas von sich in diesem Raum. Als klebte ein Teil ihrer Seele hier an den Wänden, der im Zimmer bleibt, selbst wenn ihre Körper weg sind, hellwach den Tagesgeschäften nachgehen. Die Seelen der Toten spuken an den Orten, wo sie gestorben sind. Die Nachtseelen der Lebenden spuken in den Schlafzimmern: wo sie träumen, schwitzen, weinen, kopulieren, wachliegen mit weit offenen Augen, einander wortlos den Rücken zukehren.
Aber Oda ist froh. Sie wird heute tanzen. Sie wird den besonderen Tanz zeigen, den sie schon vor Langem entwickelt,aber bis jetzt nicht aufgeführt hat. Oda ist konzentriert. Sie beugt, streckt, biegt, dehnt sich, sucht den Körper in etwas anderes zu verwandeln, etwas Raumfüllendes. Werden sie sehen können, was sie tut? Werden sie irgendetwas verstehen? Oder werden sie heimlich auf die Uhr linsen, überlegen, was morgen im Dienst zu tun ist? Es klopft. Die Tür öffnet sich einen Spalt.
»Fräulein Schottmüller?«
Kurt Schwaen, ihr Pianist.
»Ich wäre so weit.«
»Ja. Ich auch, in einem Moment.«
Kurt Schwaen hat ihr von diesem Tanz abgeraten, den sie tanzen wird. Oda hat ihn ignoriert. Sie will tanzen. Sie wird tanzen. Sie geht zur Tür. Sie überquert den Flur, betritt das Esszimmer. Sie sieht die Gäste, dicht gedrängt. Sie sieht Kurt Schwaen am Klavier. Oda atmet tief ein, dann aus. Sie betritt den Raum.
Der erste Ton. Der erste Schritt. Oda spürt, wie das Publikum mitgeht. Die Musik hämmert. Der Körper handelt. Der Körper ist der Tanz. Der Körper,
Weitere Kostenlose Bücher