Wer wir sind
Friedrich Wilhelm Heinz eine Menge gemeinsamer Bekannter: Kapitän Ehrhardt, Ernst von Salomon, Otto Strasser, Klaus Mehnert, den Nationalrevolutionär Karl Otto Paetel. Heinz hat sogar eine Weile dem Jungdeutschen Orden angehört.
Tatsächlich ist er ebenso wie Harro kurz nach der Machtergreifung in eines der wilden KZs geschleppt worden, und zwar zusammen mit Ordensgroßmeister Mahraun höchstpersönlich. Sie sind alle miteinander verbunden: Harro Schulze-Boysen kannte Ernst Niekisch, der Arvid Harnack aus der Arplan bekannt war, er kannte Cläre, die Gattin des Arplan-Mitglieds Richard Oehring, die 1917 den ›GEGNER‹-Gründer Franz Jung geheiratet hat, Arplan-Mitglied Wittfogel hat zusammen mit Klaus Mehnert 1931 einen Vortrag zum Fünfjahresplan gehalten, und danach ist Harro mit beiden ins Gesprächgekommen: Und war Harro 1935 auch zur Taufe der kleinen Antje Elisabeth Heberle eingeladen?
Es wäre immerhin denkbar. Der Großvater des Täuflings war schließlich Harros Großonkel. Harros Mutter war also die Nichte des Soziologen Ferdinand Tönnies. Tönnies’ 1887 erschienenes Grundlagenwerk ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹ hat den Gemeinschaftsbegriff geprägt, der die Jugendbewegung der Kaiserzeit und der Weimarer Republik begeistert und auch noch die Gemeinschaftstümelei der Nazis beeinflusst hat. Diesem Werk zufolge ist man in einer Gemeinschaft wesentlich miteinander verbunden, sei es in einer Familie, einem Dorf oder einem Freundeskreis. Die einzelnen Mitglieder sind unterschiedlich begabt und befähigt, ergänzen aber einander, jeder dient also dem Ganzen, und jeder solche Dienst hat seine ihm eigene Würde. Natürlich ist das Kind dem Vater, der Tagelöhner dem Großbauern nicht gleichgestellt. Aber Rechte und Pflichten korrespondieren. Wer viel zu sagen hat, trägt auch viel Verantwortung. Ungleichheit ist natürlich möglich, aber nur in sehr engen Grenzen, weil die Gemeinschaft sonst keine mehr ist.
In der Gesellschaft dagegen ist man wesentlich voneinander getrennt. Das Gemeinwohl ist dem Einzelnen deshalb gleichgültig, es interessiert ihn nur sein eigenes. Für alles, was er tut, verlangt er eine Gegenleistung. So wird alles zur Ware, Arbeit ebenso wie Geld. Alles wird zu Geld: Der Händler kauft Ware, um sie zu Geld zu machen, er kauft Arbeit, um sie zu Geld zu machen, er kauft also letztlich Geld mit Geld, wobei der einzige Zweck des Ganzen die Anhäufung von mehr Geld ist.
Ferdinand Tönnies war von Anfang an ein scharfer Gegner des Nationalsozialismus. 1933 verlor er seine Lehrbefugnis, wurde unter Streichung seiner Bezüge aus dem Beamtenstandentlassen, verarmte rasch und starb unbeachtet am 9. April 1936. Aber mindestens Harros Mutter wird sich doch die Mühe gemacht haben, zur Beerdigung ihres Onkels zu fahren.
Sie wird mit ihrer Cousine in der Aussegnungshalle gestanden haben: mit Tönnies’ Tochter Franziska, der Ehefrau Rudolf Heberles, der von 1926 bis 1929 als Stipendiat der Rockefeller Foundation in Amerika geweilt und sich dort mit den Harnacks angefreundet hat. Die Freundschaft hat sich in Deutschland weiter vertieft. Mildred ist sogar Taufpatin der kleinen Antje Elisabeth geworden. Und war nun Harro bei der Taufe zugegen? Hat Franziska ihre Gäste einander vorgestellt?
»Harro Schulze-Boysen, der Sohn meiner Cousine. Harro, darf ich dich mit Frau Dr. Harnack bekanntmachen, der Patin unserer kleinen Tochter.«
War es so?
Drei Jahre später stehen Arvid und Mildred auf dem Bahnsteig und winken. Es ist der Herbst 1938. Die Heberles verlassen Deutschland.
»Die Heberles verlassen Deutschland«, sagt Harro zu seinem Freund Kurt Schumacher. »Das sind doch nun alles tüchtige nordische Menschen. Da fragt man sich doch, ob eine solche Abwanderung im Interesse selbst dieses Staates liegen kann.«
Die Sudentenkrise ist glücklich vorüber. Der Frieden ist für diesmal gerettet. Bei Schulze-Boysens wird mal wieder ausgeschenkt.
»Schön«, sagt Harro. »Sehr schön, wenn der Krieg sich ein für alle Mal vermeiden ließe. Aber genau das bezweifle ich. Die Sache ist lediglich aufgeschoben. In spätestens zwei Jahren geht es doch los.«
Harro lehnt am Büfett. Er hat Tee gekocht, er balanciert mit der Linken die Tasse, gestikuliert mit der Rechten.
»In spätestens zwei Jahren wird es sich zeigen, dass Österreich und die Tschechoslowakei nur die ersten beiden Schlachten eines neuen Weltkrieges waren«, sagt Harro. »Die nächsten sind dann vielleicht schon an der
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