Wer wir sind
der wirbelt, schreitet, stürzt, die Arme, die stoßen, schlagen, schneiden, gleiten, die Beine, die treten, schreiten, sich biegen und strecken: Das ist sie und nicht sie. Das ist das andere, das sie beherrscht und vorantreibt, in den Taumel hinein, den die starre Maske abfängt, die Maske ist das ganz andere. Oda ist die Zweigesichtige: Das Gesicht und die Maske. Von ihrem Gesicht ist nichts zu sehen, unter der Maske. Die Maske hat die Form eines menschlichen Gesichts. Es hat den Ausdruck angespannter Starre. Es ist ein grausames Gesicht. Oder ist es ein grausam zugerichtetes? Es ist ein Gesicht ohne Blick: Die Augen sind geschlossen oder ausgewaschen. Die Wangen, die Stirn, das Kinn weichen zurück, so dass das Gesicht etwas Zugespitztes hat, wie bei einem kleinen Raubtier, einer Ratte vielleicht, etwas straff nachvorn Gespanntes, dabei eine hochgezogene Oberlippe wie bei einem knurrenden Hund oder einem Leidenden. Was ist diese Tänzerin, ein Teufel, ein Irrlicht? Ein Tier. Eine Drohung im Unterholz. Etwas, das aus der Nacht kommt, von dort, wo die Zivilisation nicht hinreicht, wo die Wildnis wartet, die Barbarei. Das Wesen springt, bäumt sich auf. Sein Schatten flieht schwarz an der Wand lang. Er legt sich auf die Gastgeberin, verfinstert die Gäste, einen nach dem anderen, der Schatten duckt sich, bäumt sich auf.
Er hebt die Arme, gekrümmt, die Krallen des Raubvogels. So verharrt er. So bleibt Oda stehen. Das Publikum ist einen Moment wie betäubt. Es will schon beginnen zu applaudieren, da setzt die Musik noch einmal ein.
Es ist noch nicht zu Ende. Es beginnt neu, oder setzt es sich fort? Das Wesen dort vorn verkrampft sich. Es windet sich. Es kämpft, auf der Stelle, zappelnd wie an einem Seil, es kämpft einen zuckenden Kampf um Luft und Leben. Dann bricht der Kopf seitlich weg. Die Grausamkeit scheint aus der Maske verschwunden, wie ist das möglich? Kann man in ein Stück Holz eine Veränderung hineintanzen? Kann der Tanz einer Maske Leben verleihen, so dass die Fratze der Grausamkeit nun zum Antlitz der grausam Misshandelten wird? Die Gestalt stürzt zu Boden, wie vom Strick geschnitten. So bleibt sie liegen, während die Musik noch einmal aufbraust, dann abbricht, mit einem letzten dünnen Ton. Einer der Gäste wirft einen diskreten Blick auf den Programmzettel. Dort steht der Name des Tanzes.
›Der Henker / Der Gehenkte‹
Elisabeth Schumacher ist bei den Hohenemsers zu Besuch: bei dem Bruder ihres Vaters und seiner Frau, ihrem blinden Onkel Richard und Tante Alice. Elisabeth sieht sich selbst in keinerGefahr. Sie ist nur Halbjüdin und außerdem mit einem Arier verheiratet. Aber sie fürchtet für ihre Verwandten. Für ihre wahre Familie, die jüdischen Geschwister ihres Vaters: Onkel Paul und die Seinen in Frankfurt, Onkel Richard und Tante Alice in Berlin. Elisabeth hat vorsichtig angefragt, ob sie nicht lieber emigrieren wollen. Aber Tante Alice ist nicht bereit, eine solche Möglichkeit auch nur zu erwägen.
»Wie stellst du dir das vor, Kind?«, sagt Tante Alice zu Elisabeth. »Wo sollen wir denn hingehen, wenn wir Deutschland verlassen?«
Im Juli 1938 sind auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt in Évian-les-Bains Delegierte aus zweiunddreißig Nationen zusammengekommen, um das Flüchtlingsproblem zu lösen. Einstimmig hat man sich dafür ausgesprochen, allen Personen, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen ihre Heimatländer verlassen müssen, Asyl zu gewähren, jedenfalls soweit die Finanzierung von privaten Organisationen getragen wird und man alles vermeiden kann, was als Eingriff in die inneren Angelegenheiten des Deutschen Reichs gedeutet werden könnte.
Die europäischen Länder sind allerdings nicht in der Lage, noch jemanden aufzunehmen. Sie haben schon zu viele Arbeitslose. Amerika kann bedauerlicherweise seine festen jährlichen Einwanderungsquoten nicht beliebig erhöhen. Kanada und Australien können zu ihrer Betrübnis nur englische Einwanderer aufnehmen, da ihre Länder bislang gänzlich frei von Rassismus sind und sie nicht gedenken, nun anderer Leute Rassenprobleme zu importieren,
insbesondere da die Zuwanderung von Juden doch letztlich den Juden selbst schaden würde, weil sie dem Antisemitismus neuen Auftrieb geben muss.
Aber vielleicht kann man die Juden ja nach Madagaskarschicken. Vielleicht könnten sie in die portugiesische Kolonie Angola einwandern oder in das von der Sowjetunion eingerichtete Autonome Gebiet
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