Wer wir sind
Schwarzmeerküste, oder in Litauen. Und dann wird es zehnmal so viel Opfer geben, als wenn es jetzt gleich geknallt hätte.«
Noch sind nur Günther Weisenborn, Oda Schottmüller, Kurt und Elisabeth Schumacher da. Die Schumachers sitzen Oda gegenüber, auf dem großen Liebenberger Sofa. Libertas tritt herein, mit einem Tablett voller Gläser. Harro rutscht zur Seite, damit Libs die Gläser auf dem Büfett abstellen kann. Es sind schöne Gläser: große, grünlich schimmernde Weinkelche aus Liebenberg.
Libs und Harro stellen immer nur Gläser bereit. Alles andere bringen die Gäste mit. Die Schulze-Boysens führen noch immer ein offenes Haus: etwas, was Berlin im Jahre 1938 eigentlich längst nicht mehr zu bieten hat. Harro lässt sich aber nicht einschränken. Er ist entschlossen, sich frisch und wohl zu erhalten. Im Winter fahren Harro und Libs Ski in Österreich, im Sommer zelten sie mit Freunden auf dem Darß. Sie radeln sonntags nach Liebenberg hinaus und baden in der Lanke, sie fahren mit dem Wagen an die Adria, in den Spreewald. Sie verfassen gelegentlich ein Flugblatt. Nichts Weltbewegendes, nichts mit hohen Auflagen: Sie verbreiten einfach in ihren nach Information hungernden Kreisen ein paar Neuigkeiten aus der Auslandspresse. Kurts Augen blitzen.
»London hat nun mal kein Interesse an einem Krieg«, sagt er. »Man fürchtet um die Geschäfte. Man fürchtet, dass es vor allem dem britischen Weltreich an den Kragen gehen könnte. Was zählen da schon die Tschechen. Was zählen irgendwelcheVersprechen, die man solch kleinem Ländchen irgendwann mal gemacht haben sollte.«
Wenn Kurt den Kopf neigt, erinnert er noch mehr als sonst an einen Faun, mit seiner ausgeprägten Nase, den nach außen gebogenen Spitzen seiner Ohrmuscheln. Elisabeth sitzt Kurt zugewandt. Oda sieht weg. Oda hat heute eine Packung Leibnizkekse beigesteuert. Elisabeth hat einen selbstgebackenen Apfelkuchen mitgebracht, aus selbstgepflückten Äpfeln von ihrem Baum in dem Kleingarten an der Papestraße.
Manchmal fragt Oda sich, was sie hier tut. Warum sie überhaupt immer noch herkommt. Oda will nicht hier sein. Sie will tanzen. Sie will arbeiten. Sie arbeitet aber nicht. Der Schriftsteller kann schreiben, auch wenn ihn keiner druckt. Der Maler kann malen, der Komponist komponieren: Aber kann der Schauspieler spielen, wenn ihm keiner zusieht? Kann der Sänger singen, der Tänzer tanzen? Es wäre, wie in einen blinden Spiegel zu sehen. Es wäre, wie zu kochen ohne einen Esser. Oda soll das Dessert sein, auf der Speisekarte des Dritten Reichs. Sie ist aber nicht süß genug. Sie müsste leichter sein, mehr Soufflé, natürlich kann Oda nicht den ›Erdwächter‹ tanzen, im Kabarett der Komiker, das ist ihr klar.
Sie hat also ›Lied überm Land‹ getanzt. Ein so schöner Tanz. Ein so schönes Kostüm: ein weich schwingendes Kleid, das schimmert und fließt, so dass ihre Figur im Spiegel aussieht wie etwas in Wasser Gespiegeltes, wie ein Bild, das ihr ein Fluss entgegenwirft. Oda ist aber abgelehnt worden.
Dann hat die Direktrice vom Plaza neulich bei einer Probe zugesehen. Oda hat die ›Seltsame Stunde‹ getanzt. Ein Maskentanz. Die Nazis sind eigentlich sehr für Masken. Masken sind überindividuell. Aber auch sie ändern nichts daran, dass unter der Maske Oda steckt. Oda trägt die Maske während des Tanzes auf dem Hinterkopf. Erst wenn der Zuschauerganz sicher fühlt, dass er die Tanzende von vorn sieht, wendet sie sich um und zeigt ihr wahres Gesicht. Die Direktrice hat aufrichtig applaudiert. Dann hat sie ihren Arm unter Odas geschoben.
»Nehmen Sie es mir nicht übel, meine Liebe. Es war großartig, keine Frage. Aber es ist eben doch auch ein wenig, nun ja. Entartet. Und nachdem wir ein gehobenes Publikum zu unterhalten haben.«
Oda hat in den letzten Monaten im Wesentlichen mit dem Honorar für die Büste von Carin Göring auskommen müssen. Ein Auftrag der Droste-Hülshoff-Mittelschule für Mädchen, die sich soeben nach des Reichsmarschalls erster Frau benannt hat. Letzte Woche ist die Büste der neuen Namensgeberin aufgestellt worden. Natürlich ist auch die Droste noch da. Sie ist nur relegiert worden. Sie ist ein Stück weiter nach hinten gewandert, in der großen Aula, und an ihrem Platz steht nun eben Carin. Ist Oda vielleicht inkonsequent?
Muss sie viel konsequenter werden?
Wenn sie nicht süß genug ist, sollte sie vielleicht ganz radikal auf das Abgründige setzen, kompromisslos das Bizarre forcieren, das
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