Werbevoodoo
das ein kühler Kastaniengarten an einem heißen Sommertag? Natürlich. All das ist Bier. Aber das ist nicht der Kern, sondern nur das Fruchtfleisch. Das ist das brave, durch unsere gesellschaftlichen Konventionen geformte Werbeklischee. Das tut niemandem weh, das nützt aber auch niemandem. Und deshalb kann ich Ihnen so etwas auch nicht guten Gewissens präsentieren. Also ist diese Präsentation heute weiß.«
Weiß wurde in diesem Moment auch das Gesicht Haslsteiners. Ihm schwante Fürchterliches. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen, keine Generalprobe am Vorabend zu machen? Alle Signale waren auf Himmelfahrtskommando gestellt.
»Ein weißes, unbeschriebenes Blatt«, fuhr Tom fort, »damit etwas Neues entstehen kann.«
In der Pause, die Tom nun setzte, war es so still, dass man hörte, wie die Kohlensäurebläschen in den Gläsern aufstiegen und an der Oberfläche des Mineralwassers zerplatzten.
»Stellen Sie sich vor, es ist abends, fünf Minuten vor acht. Gleich fängt die Tagesschau an. Deutschland sitzt gemütlich im Sessel und guckt Werbefernsehen. Und zur selben Zeit tanzt eine enthemmte, durchgeknallte Menschenmenge auf den Tischen. Junge Männer mit tadellosem polizeilichen Führungszeugnis küssen wildfremde Dirndlträgerinnen. Junge Versicherungsangestellte heben ihre Blusen hoch und zeigen ihre Brüste. Menschen, die sich eine Stunde zuvor noch nicht kannten, schenken einander Lebkuchenherzen, auf denen steht ›Dad’n Sie eventuell mit mir fegln?‹
Was ist das?
Klar, das ist das Oktoberfest.
Aber was ist das noch?
Das ist das wahre Wesen des Bieres. Warum ignorieren wir es? Warum sind wir zu fein, es zuzugeben?«
Und nun ging Tom zum Laptop und schrieb mit großen Buchstaben eine Gleichung an die Wand:
›BIER = ANARCHIE‹
Toms Stimme war klar, laut und fest und hundertprozentig davon überzeugt, was sie da in den großen Besprechungsraum rief: »Das gepflegte Bierchen ist tot! Es lebe das freie, wilde Bier!«
Er trat noch mal ans Laptop und schrieb in großen Lettern: ›DAS BIER FÜR DAS TIER.‹
Die Marketingleiterin sprang auf und applaudierte. Obwohl der Vertriebsvorstand eigentlich ihr Vorgesetzter war, schloss er sich dem Applaus an, die Assistenten jubelten und Toms Beratungsgeschäftsführer klemmte die Arme zusammen, um die Schweißflecken unter den Ärmeln seines hellen Sommeranzugs zu verbergen.
»Sie haben unserem Unternehmen eine Vision gegeben! Vielen Dank, Herr Thamm, das ist genau das, was ich mir von Ihrer Agentur erhofft hatte. Wie lange wird es dauern, diese Vision mit Leben zu füllen?«
Rückblickend war dieser Tag der beste von allen gewesen. Abends musste Doktor Haslsteiner mit dem Assistenten allein nach Hause fahren und Tom durfte der Marketingleiterin die ganze Nacht lang zeigen, wie er die Vision vom wilden Tier zum Leben erwecken wollte. Bedauerlicherweise blieb es bei der einen Nacht. Und danach wurde es zäh. Bei der nächsten Präsentation, drei Wochen später, war die Marketingleiterin weg. Und das Bier wie ein Tier zum Abschuss freigegeben. Tom erfuhr erst jetzt, dass seine Lieblingskundin die Enkelin des Brauerei-Inhabers war. Dieser hatte sie, wie der Vertriebschef erzählte, nach Amerika geschickt, um ihren Horizont zu erweitern.
Es dauerte noch fast neun Monate, bis die ersten Plakatmotive erschienen. Darauf sah man eine hübsche, blonde Dirndlträgerin, die sich leicht nach vorn beugte, ein Bier servierte, darüber ein Dach aus Kastanienblättern und die Schlagzeile: »Das Bier von mir.«
Die reine Anarchie also.
11. Im Invalidenheim
»Es gibt die großen, die mittelgroßen und die kleinen Fragen.« Wondrak stand nicht wie ein Lehrer vorn an der Tafel, sondern saß betont lässig am Rande eines Tisches. »Und nicht jede Frage kann von jedem beantwortet werden. Ich bin zum Beispiel vollkommen damit überfordert, zu beantworten, wie man einen Blackberry bedient. Aber das muss bitte wirklich unter uns bleiben!«
Seine Schüler waren heute nicht sonderlich munter und lächelten nur schwach. Sie hielten es für einen müden Scherz, dabei war es Wondrak vollkommen ernst damit. Trotzdem hätte er sich ein bisschen mehr Reaktion erhofft.
Er wollte gemocht werden. Gerade von seinen Schülern. Das war eines der Motive dafür, warum er überhaupt Vorlesungen hielt. Vielleicht war es sogar sein Hauptmotiv. Er stand auf und ging zum Overheadprojektor. Gutes, altes Vorcomputerzeitalter. Manchmal hatte es auch Vorteile, wenn an
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