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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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haben? Ich fürchte sehr, daß er schon den ersten Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre aufgestülpte Nase. Mich dünkt, ich höre ihn ausrufen: Beim Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt!
    Ich leugne nicht, daß bei alle den Widersprüchen, die uns diesen Solimann so armselig und verächtlich machen, er nicht wirklich sein könnte. Es gibt Menschen genug, die noch kläglichere Widersprüche in sich vereinigen. Aber diese können auch, eben darum, keine Gegenstände der poetischen Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es wäre denn, daß man ihre Widersprüche selbst, das Lächerliche oder die unglücklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bei seinem Solimann zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht. – Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen über geringere Geschöpfe erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten um zu dichten, die nur nachahmen um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnügen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen, und verlangen, daß auch wir uns mit dem eben so geringen Vergnügen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmungen fängt das Genie an, zu lernen; es sind seine Vorübungen; auch braucht es sie in größern Werken zu Füllungen, zu Ruhepunkten unserer wärmern Teilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und größere Absichten; die Absicht uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben; die Absicht uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten und Bösen, des Anständigen und Lächerlichen bekannt zu machen; die Absicht uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schön und als glücklich selbst im Unglücke, dieses hingegen als häßlich und unglücklich selbst im Glücke, zu zeigen; die Absicht, bei Vorwürfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung für uns Statt hat, wenigstens unsere Begehrungs- und Verabscheuungskräfte mit solchen Gegenständen zu beschäftigen, die es zu sein verdienen, und diese Gegenstände jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verführt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren.
    Was ist nun von diesen allen in dem Charakter des Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchem ist gerade das Gegenteil darin; ein Paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich erregen müßte, ein stumpfer Wollüstling, eine abgefäumte Buhlerin, werden uns mit so verführerischen Zügen, mit so lachenden Farben geschildert, daß es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schönen als gefälligen Gattin überdrüssig zu sein, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist.
    Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die angeführten französischen Kunstrichter Recht, daß sie alle das Tadelhafte des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet ihnen sogar dabei noch mehr gesündiget zu haben, als jener. »Die Wahrscheinlichkeit, sagen sie, auf die es vielleicht in einer Erzählung so sehr nicht ankömmt, ist in einem dramatischen Stücke unumgänglich nötig; und diese ist in dem gegenwärtigen auf das äußerste verletzet. Der große Solimann spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein Schatten von der unumschränkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß. Man hätte diese Gewalt wohl lindern können; nur ganz vertilgen hätte man sie nicht müssen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen; aber wenn die Überlegung darüber kömmt, wie sieht es dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariser

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