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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Dostojewski
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das am Leben so schwer zu tragen hatte! Ich wußte, daß sie sich im Zusammensein mit mir gewissermaßen erholte. Ich erinnere mich, daß, wenn ich sie so ansah, ich mir manchmal seltsame Gedanken machte; ich legte mich aufs Raten und hatte, bevor ich noch anfing zu leben, schon viel von den Dingen des Lebens erraten.
    Endlich wurde ich dreizehn Jahre alt. Inzwischen hatte sich Alexandra Michailownas Gesundheitszustand immer mehr verschlechtert. Sie wurde reizbarer, die Anfalle verzweifelter Traurigkeit heftiger. Die Besuche ihres Mannes begannen häufiger zu werden, und er saß immer länger bei ihr, natürlich wie früher schweigsam, düster und mürrisch. Ihr Schicksal fing an, mich stärker zu interessieren. Ich entwuchs dem Kindesalter; neue Gefühle, Beobachtungen, Neigungen, Vermutungen waren bei mir in der Bildung begriffen; es war erklärlich, daß das Rätsel, das in dieser Familie vorlag, mich immer mehr zu peinigen begann. Zu anderer Zeit wieder verfiel ich in Gleichgültigkeit, in Teilnahmslosigkeit, ja sogar in eine ärgerliche Stimmung und vergaß meine Neugier, da ich auf keine meiner Fragen eine Antwort fand. Zeitweilig (und dies kam jetzt immer häufiger vor) empfand ich ein seltsames Bedürfnis, allein zu sein und nachzudenken, immer nur nachzudenken; mein gegenwärtiger Zustand hatte Ähnlichkeit mit jener Zeit, als ich noch bei meinen Eltern lebte, und als ich am Anfang, ehe ich noch meinem Vater nähertrat, ein ganzes Jahr lang nachdachte, meine Phantasie arbeiten ließ und aus meinem Winkel heraus nach der Welt hinblickte, so daß ich schließlich inmitten der Gebilde, die meine Einbildungskraft geschaffen hatte, ganz menschenscheu wurde. Der Unterschied war nur der, daß ich jetzt mehr Ungeduld, mehr Unruhe, mehr neue unbewußte Triebe, mehr Verlangen nach Bewegung empfand, so daß ich nicht mehr wie früher imstande war, meine Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu konzentrieren. Ihrerseits schien Alexandra Michailowna sich jetzt selbst von mir weiter zu entfernen. In diesem Lebensalter konnte ich ihr kaum mehr eine Freundin sein. Ich war kein Kind mehr; ich fragte zu sehr nach vielen Dingen und blickte sie mitunter so an, daß sie die Augen vor mir niederschlagen mußte. Es kamen seltsame Augenblicke vor. Ich konnte es nicht ertragen, sie weinen zu sehen, und oft traten mir bei ihrem Anblick selbst die Tränen in die Augen. Ich fiel ihr um den Hals und umarmte sie innig. Was konnte sie mir antworten? Ich fühlte, daß ich ihr peinliche Empfindungen erregte. Aber zu anderer Zeit (auch das war eine peinliche, traurige Zeit), umarmte sie mich selbst krampfhaft wie eine Verzweifelte, als ob sie mich um Teilnahme bäte, als ob sie ihre Vereinsamung nicht ertragen könne, als ob ich sie schon verstände, als ob ich mit ihr zusammen litte. Aber es blieb doch ein Geheimnis zwischen uns, das war klar, und ich begann mich nun selbst von ihr in solchen Augenblicken zu entfernen. Es war mir peinlich, mit ihr zusammen zu sein. Überdies gab es nur wenige Dinge, die uns hätten zusammenhalten können, eigentlich nur die Musik. Aber die Musik hatten ihr die Ärzte jetzt verboten. Bücher? Aber hier lag die Sache noch schwieriger. Sie wußte schlechterdings nicht, wie sie mit mir zusammen lesen sollte. Wir wären gewiß auf der ersten Seite steckengeblieben: jedes Wort konnte eine Anspielung sein, jeder harmlose Satz ein Rätsel. Einem warmen, herzlichen Zwiegespräche gingen wir beide aus dem Wege.
    Aber gerade in dieser Zeit gab das Schicksal plötzlich und unerwartet meinem Leben eine sehr seltsame Wendung. Meine Aufmerksamkeit, meine Gefühle, mein Herz und mein Kopf, alles wandte sich auf einmal mit einer Anspannung des Geistes, die bis zum Enthusiasmus ging, einer andern mir bisher fremden Tätigkeit zu, und ich selbst ging, ohne es zu bemerken, völlig in eine neue Welt über. Ich hatte keine Zeit, mich umzuwenden, um mich zu blicken, nachzudenken; ich konnte zugrunde gehen, das fühlte ich sogar; aber die Verlockung war stärker als die Furcht, und ich ging aufs Geratewohl mit geschlossenen Augen weiter. So wurde ich auf lange Zeit von jener Daseinsform abgezogen, die mir bereits so peinlich zu sein angefangen hatte, und aus der ich so begierig und vergeblich einen Ausgang gesucht hatte. Es handelte sich um folgendes, und der Hergang war dieser.
    Das Eßzimmer hatte drei Ausgänge; einen in die großen Zimmer, einen andern in mein Zimmer und die Kinderstuben, und ein dritter führte in die Bibliothek.

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