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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Dostojewski
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habe, ihr nach jeder Lektion um den Hals fiel und sie herzlich umarmte. Meine tiefe Empfindung rührte sie und versetzte sie sogar in das größte Erstaunen. Voll Teilnahme begann sie, mich über meine Vergangenheit zu befragen, und jedesmal wurde sie nach meinen Erzählungen gegen mich zärtlicher und ernster, ernster deswegen, weil ich mit meiner unglücklichen Kindheit ihr nicht nur Mitleid, sondern auch eine gewisse Achtung einflößte. Nach meinen Geständnissen führten wir gewöhnlich lange Gespräche, in denen sie mir meine eigene Vergangenheit erklärte, so daß ich sie tatsächlich gleichsam von neuem durchlebte und vieles neu lernte. Madame Léotard fand diese Gespräche oft zu ernst und meinte, wenn sie mich unwillkürlich weinen sah, sie seien überhaupt nicht angebracht. Ich meinerseits dachte darüber ganz anders, weil mir nach diesem „Unterricht“ immer so wohl und leicht ums Herz wurde, als ob in meinem Lebensschicksal gar nichts Trauriges vorgekommen wäre. Überdies war ich Alexandra Michailowna sehr dankbar dafür, daß sie mir mit jedem Tage mehr Grund gab, sie zu lieben. Der braven Madame Léotard war es nicht in den Sinn gekommen, daß auf diese Weise all die unordentlichen, stürmischen Gedanken, die früher vorzeitig in meiner Seele rege geworden waren, allmählich in Ordnung kommen und sich zu schöner Harmonie zusammenfügen würden, Gedanken, zu denen mein beständig verwundetes Kinderherz in qualvollem Schmerz hatte gelangen müssen, und die zur Folge hatten, daß es in ungerechter Verbitterung über diesen Schmerz weinte, da es nicht begriff, woher die Schläge kamen.
    Der Tag begann damit, daß wir beide uns im Kinderzimmer bei ihrem Kinde zusammenfanden, es weckten, zurechtmachten, ankleideten, fütterten, mit ihm spielten und es reden lehrten. Dann verließen wir das Kind und setzten uns an die Arbeit. Wir trieben vielerlei; aber Gott weiß, was das für eine Wissenschaft war. Es war alles zusammen und dabei doch nichts Bestimmtes. Wir lasen, teilten einander unsere Eindrücke mit, warfen das Buch hin und musizierten statt dessen, und so flogen ganze Stunden unvermerkt dahin. Abends kam häufig B..., der mit Alexandra Michailowna befreundet war; auch Madame Léotard kam; nicht selten entspann sich dann ein sehr eifriges, hitziges Gespräch über Kunst, über das Leben (das wir in unserem Kreise nur vom Hörensagen kannten), über Wirklichkeit und Ideale, über Vergangenheit und Zukunft, und wir saßen oft bis Mitternacht auf. Ich hörte mit größter Aufmerksamkeit zu, geriet mit den andern in Feuer, lachte oder war gerührt, und hier erfuhr ich auch unzählige Einzelheiten über meinen Vater und meine erste Kindheit. Unterdessen wuchs ich heran; es wurden Lehrer für mich angenommen, von denen ich aber ohne Alexandra Michailownas Hilfe nichts gelernt hätte. Bei dem Geographielehrer hätte ich nur blind werden können über dem Aufsuchen der Städte und Flüsse auf der Karte. Mit Alexandra Michailowna dagegen machte ich so weite Reisen, trieb mich in so vielen Ländern umher, sah so viele Wilde, verlebte so viele phantasievolle Stunden, und zwar unter so starkem beiderseitigen Eifer, daß die Bücher, die sie bereits gelesen hatte, entschieden nicht mehr ausreichten und wir uns genötigt sahen, neue zu beschaffen. Bald war ich selbst imstande, meinen Geographielehrer zu belehren, wiewohl ich ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen muß, anzuerkennen, daß er mir bis zu Ende in der genauen Kenntnis der Grade, unter denen ein Städtchen lag, und seiner Einwohnerzahl nach Tausenden, Hunderten und Zehnern überlegen war. Dem Geschichtslehrer wurde sein Honorar ebenfalls sehr pünktlich bezahlt; aber wenn er weggegangen war, lernten Alexandra Michailowna und ich Geschichte auf unsere Weise: wir griffen nach den Büchern und lasen manchmal bis tief in die Nacht hinein, oder, richtiger gesagt, Alexandra Michailowna las vor, weil sie dabei eine Zensur ausübte. Nie habe ich ein größeres Entzücken empfunden als bei dieser Lektüre. Wir gerieten beide in eine solche Begeisterung, als ob wir selbst die Helden wären. Allerdings lasen wir mehr zwischen den Zeilen als in den Zeilen; dazu kam, daß Alexandra Michailowna vortrefflich zu erzählen verstand, so daß es schien, als ob alles, wovon sie las, sich in ihrem Beisein zugetragen hätte. Mag es meinetwegen lächerlich erscheinen, daß wir so Feuer und Flamme wurden und bis Mitternacht aufsaßen, ich ein Kind und sie ein wundes Herz,

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