Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
meine Lektüre wahllos mit dem ersten Buche, das mir in die Hände fiel; aber das Schicksal behütete mich: das, was ich bisher erfahren und durchlebt hatte, war alles so rein und ernst gewesen, daß jetzt auch eine heimtückische, unsaubere Stelle eines Buches mich nicht verfuhren konnte. Es bewahrten mich mein kindlicher Instinkt, mein jugendliches Alter und meine ganze Vergangenheit. Jetzt aber erhellte mir die neue Erkenntnis gleichsam auf einmal mein ganzes früheres Leben. In der Tat, fast jede Seite, die ich las, kam mir schon gewissermaßen bekannt vor, wie wenn ich ihren Inhalt schon längst erlebt hätte, wie wenn alle diese Leidenschaften und dieses ganze Leben, das in so unerwarteten Formen und in so zauberhaften Bildern vor mich hintrat, mir schon längst durch die Erfahrung bekannt wären. Und wie hätte ich mich nicht bis zur Selbstvergessenheit, ja beinah bis zur Entfremdung von der Wirklichkeit hinreißen lassen sollen, wenn sich vor meinem Auge in jedem Buche, das ich las, derselbe Geist der Geschehnisse und dieselben Gesetze des Schicksals verkörperten, die über dem Leben der Menschen walteten, aber aus einem obersten Gesetze des menschlichen Lebens flossen, welches die Verbindung der Errettung, der Erhaltung und des Glückes war? Dieses Gesetz, das ich ahnte, suchte ich mit aller Kraft zu erkennen, mit allen Fähigkeiten, die in mir sozusagen durch den Selbsterhaltungstrieb erweckt worden waren. Es war, als hätte mich jemand schon im voraus darauf hingewiesen, schon im voraus meine Aufmerksamkeit darauf hingelenkt. Meine Seele gewann gleichsam eine Art von Sehergabe, und mit jedem Tage wurde in meiner Seele die Hoffnung kräftiger, wiewohl es mich gleichzeitig immer heftiger nach jener Zukunft und nach jenem Leben verlangte, das täglich in dem, was ich las, mit aller Kraft, die der Kunst eigen ist, und mit allem Reize, über den die Poesie verfügt, auf mich einwirkte. Aber wie ich schon gesagt habe, meine Phantasie; übte doch die Herrschaft über meine Ungeduld aus, und ich. war, um die Wahrheit zu sagen, kühn nur in meinen Träumereien, während mir in der Wirklichkeit vor der Zukunft instinktmäßig bange war. Und daher hatte ich. wie auf Grund eines vorläufigen Vertrages mit mir selbst, mir unbewußt vorgenommen, mich einstweilen mit der Welt der Phantasie und der Träumereien zu begnügen, in der ich die einzige Herrscherin war, und in der es nur Wonnen und Freuden gab, und in der selbst das Unglück, wenn ihm überhaupt der Zutritt gestattet wurde, nur eine passive Rolle spielte, eine vorübergehende Rolle, eine Rolle, die für die wonnevollen Kontraste und für die plötzliche Wendung des Schicksals zum glücklichen Ende in meinen erdichteten, entzückenden Romanen erforderlich war. So verstehe ich jetzt meine damalige Stimmung.
Und dieses Leben, ein Leben in der Phantasie, ein Leben der Entfremdung von allem, was mich umgab, konnte ganze drei Jahre dauern!
Dieses Leben war mein Geheimnis, und nach ganzen drei Jahren wußte ich noch nicht, ob ich mich vor seiner plötzlichen Aufdeckung fürchten sollte oder nicht. Das, was ich in diesen drei Jahren geistig durchlebt hatte, war gar zu eng mit mir verwandt und stand mir gar zu nah. In allen diesen Träumereien spiegelte ich mich selbst gar zu deutlich wider, dergestalt, daß ich in Verlegenheit und Schrecken geraten wäre, wenn ein Fremder, mochte es sein, wer es wolle, unversehens einen Blick in meine Seele geworfen hätte. Zudem führten wir alle, unser ganzes Haus, ein so einsames Leben, so fern von der Gesellschaft, in so klösterlicher Stille, daß sich unwillkürlich bei einem jeden von uns eine Konzentration auf die eigene Person, das Bedürfnis, sich abzuschließen herausbilden mußte. Dies war auch bei mir der Fall. In diesen drei Jahren hatte sich um mich herum nichts verändert; alles war wie früher geblieben. Wie früher herrschte bei uns eine traurige Eintönigkeit, die (so urteile ich jetzt darüber), wenn mich nicht meine geheime, verborgene Tätigkeit so lebhaft interessiert hätte, meine Seele gemartert und mich dazu getrieben haben würde, einen unbekannten, revolutionären Ausgang aus dieser matten, langweiligen Umgebung zu suchen, vielleicht zu meinem Verderben. Madame Léotard war schon recht alt geworden und blieb fast immer auf ihrem Zimmer; die Kinder waren noch zu klein; B... war zu einseitig und Alexandra Michailownas Mann immer noch ebenso düster und unzugänglich und abgeschlossen wie früher. Zwischen
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