Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Die Bibliothek hatte noch einen andern Eingang, der von meinem Zimmer nur durch ein Arbeitszimmer getrennt war, in welchem gewöhnlich Pjotr Alexandrowitschs Gehilfe saß, der gleichzeitig sein Kopist, sein Sekretär und sein Faktotum war. Der Schlüssel zur Biliothek und zu den Bücherschränken befand sich in seiner Verwahrung. Eines Tages nach dem Mittagessen, als der Sekretär nicht zu Hause war, fand ich diesen Schlüssel auf dem Fußboden. Mich packte die Neugier, und mit meinem Funde ausgerüstet betrat ich die Bibliothek. Dies war ein ziemlich großes, sehr helles Zimmer, an dessen Wänden ringsumher acht große, mit Büchern angefüllte Schränke standen. Es waren sehr viele Bücher da; ein großer Teil derselben war Pjotr Alexandrowitsch durch Erbschaft zugefallen; einen andern Teil hatte Alexandra Michailowna zusammengebracht, die fortwährend Bücher kaufte. Bisher hatte man mir Bücher nur mit großer Vorsicht zu lesen gegeben, so daß ich ohne Mühe merkte, daß mir vieles vorenthalten wurde und für mich ein Geheimnis blieb. So schloß ich denn in unbezwinglicher Neugier, von Angst und Freude und einem besonderen unklaren Gefühle erfüllt, den ersten Schrank auf und nahm das erste Buch heraus. In diesem Schranke standen Romane. Ich nahm einen von ihnen heraus, schloß den Schrank wieder zu und nahm das Buch mit, wobei ich eine sehr sonderbare Empfindung und ein so starkes, beklemmendes Herzklopfen hatte, als ob ich ahnte, daß sich ein großer Umschwung in meinem Leben vollziehe. Als ich in mein Zimmer kam, schloß ich mich ein und schlug den Roman auf. Aber ich war nicht imstande, ihn zu lesen; ich hatte eine andere Sorge: ich mußte mir zunächst die Herrschaft über die Bibliothek dauernd und endgültig so sichern, daß niemand etwas davon wußte, und mir die Möglichkeit schaffen, jedes Buch zu jeder Zeit in die Hände zu bekommen. Darum verschob ich meinen Genuß auf einen günstigeren Zeitpunkt, trug das Buch zurück und behielt heimlich den Schlüssel. Ich behielt ihn heimlich – und dies war die erste schlechte Tat in meinem Leben. Ich wartete, was nun folgen werde; es gestaltete sich alles außerordentlich günstig: der Sekretär suchte nach dem Schlüssel den ganzen Abend und während eines Teiles der Nacht mit einem Lichte auf dem Fußboden und entschloß sich am nächsten Morgen dazu, einen Schlosser zu rufen, der aus einem mitgebrachten Schlüsselbunde einen neuen Schlüssel aussuchte. Damit war die Sache zu Ende, und von dem Verlorengehen des Schlüssels bekam niemand etwas zu hören; ich aber verfuhr so vorsichtig und schlau, daß ich erst nach Ablauf einer Woche in die Bibliothek ging, als ich die völlige Überzeugung erlangt hatte, daß ich vor jedem Verdachte sicher war. Anfangs wählte ich mir immer eine Zeit aus, wo der Sekretär nicht zu Hause war; dann aber fing ich an, vom Eßzimmer aus hineinzugehen, weil der Sekretär zwar den Schlüssel in der Tasche hatte, sich aber weiter nicht um die Bücher bekümmerte und daher auch das Zimmer nicht betrat, in dem sie aufbewahrt wurden.
Ich begann mit einer wahren Gier zu lesen, und die Lektüre fesselte mich bald vollständig. Alle meine neuen Bedürfnisse, alle unlängst bei mir hervorgetretenen Bestrebungen, alle noch unklaren Triebe meines Übergangsalters, die, durch meine allzufrühe Entwicklung vorzeitig hervorgerufen, in meiner Seele sich so unruhig und aufrührerisch gerregt hatten, all dies wandte sich plötzlich für lange Zeit einem andern, unerwartet sich darbietenden Ausgange zu, als ob es nun den rechten Weg für sich gefunden hätte und sich durch die neue Nahrung völlig befriedigt fühlte. Bald waren mein Herz und mein Kopf dermaßen bezaubert, bald hatte meine Phantasie sich so üppig entwickelt, daß ich gleichsam die ganze Welt, die mich bisher umgeben hatte, vergaß. Es schien, als hielte mich das Schicksal selbst an der Schwelle des neuen Lebens an, nach dem es mich so verlangte, und mit dessen Rätseln ich mich Tag und Nacht beschäftigte, und als stelle es, bevor es mich den unbekannten Weg betreten ließe, mich auf eine Höhe und zeige mir von dort die Zukunft in einem zauberhaften Panorama, in einer lockenden, glänzenden Perspektive. Es war mir beschieden, diese ganze Zukunft in der Weise zu durchleben, daß ich sie zuerst aus Büchern kennenlernte, sie zu durchleben in träumerischen Gedanken, in süßen Hoffnungen, in leidenschaftlichen Ausbrüchen, in der wonnigen Aufregung der jungen Seele. Ich begann
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