Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
ihm und seiner Frau bestanden dieselben geheimnisvollen Beziehungen wie ehemals, die mir immer drohender und düstrer erschienen und mich immer mehr um Alexandra Michailowna besorgt machten. Ihr freudloses, farbloses Leben schwand sichtlich vor meinen Augen dahin. Ihr Gesundheitszustand verschlimmerte sich fast von einem Tage zum andern. Eine Art von Verzweiflung ergriff sie schließlich; sie stand offenbar unter dem Drucke einer unbekannten, undefinierbaren Last, über die sie sich selbst nicht klar werden konnte, einer entsetzlichen und zugleich ihr selbst unbegreiflichen Last, die sie aber als ein unvermeidliches Kreuz ihres unglücklichen Lebens auffaßte. Ihr Herz verhärtete sich schließlich in dieser dumpfen Qual; sogar ihr Geist nahm eine andere, trübe, traurige Richtung an. Besonders überraschte mich eine Beobachtung: es schien mir, daß sie, je älter ich wurde, sich um so mehr von mir zurückzog, so daß ihre Verschlossenheit mir gegenüber sogar in eine Art von ungeduldigem Ärger überging. In manchen Augenblicken schien sie mich überhaupt nicht mehr gern zu haben; es machte den Eindruck, als fühle sie sich durch mich belästigt. Ich habe gesagt, daß ich anfing, mich absichtlich von ihr zurückzuziehen, und nachdem ich mich einmal von ihr zurückgezogen hatte, wurde ich sozusagen von der Verschlossenheit ihres Charakters angesteckt. Dies war der Grund, weshalb ich alles, was ich in diesen drei Jahren geistig erlebte, alles was in meinem Herzen an Träumereien, an Erwerb von Kenntnissen, an Hoffnungen und leidenschaftlichen Entzückungen vorging, weshalb ich alles dies hartnäckig in mich verschloß. Und nachdem wir einmal unsere Herzen gegeneinander verschlossen hatte, konnten wir das frühere aufrichtige Verhältnis nie wiedergewinnen, obgleich ich, wie. es mir scheint, sie mit jedem Tage noch mehr als früher liebte. Ich kann jetzt nicht ohne Tränen daran zurückdenken, welche innige Zuneigung sie mir erwies, wie sie sich in ihrem Herzen für verpflichtet hielt, den ganzen darin enthaltenen Schatz von Liebe über mich auszuschütten und ihr Gelöbnis voll und ganz zu erfüllen: mir eine Mutter zu sein. Allerdings zog ihr eigener Kummer sie manchmal auf lange Zeit von mir ab; sie schien mich dann zu vergessen, um so mehr, da auch ich mir Mühe gab, sie nicht an mich zu erinnern, so daß ich sechzehn Jahre alt wurde, ohne daß es jemand gewahr geworden zu sein schien. Aber zu Zeiten, wo ihr Bewußtsein klarer war und sie einen helleren Blick für ihre Umgebung hatte, begann Alexandra Michailowna sich auf einmal um mich zu beunruhigen; ungeduldig ließ sie mich aus meinem Zimmer von meinen Unterrichtsstunden und meiner Lerntätigkeit weg zu sich rufen und überschüttete mich mit Fragen, als ob sie sich wieder gründlich über mich orientieren wolle; sie trennte sich dann ganze Tage lang nicht von mir, suchte alle meine Empfindungen und Wünsche zu erraten, machte sich offenbar Sorge um mein Heranwachsen, um meinen derzeitigen Zustand und um meine Zukunft und bemühte sich mit unerschöpflicher Liebe, ja mit einer Art von Ehrfurcht, mir behilflich zu sein. Aber sie hatte sich meiner schon sehr entwöhnt, und daher verfuhr sie manchmal sehr naiv, so daß ich alles mit Leichtigkeit merkte und durchschaute. So z.B. (und zwar begab sich das, als ich bereits sechzehn Jahre alt war) kramte sie einmal unter meinen Büchern, um festzustellen, was ich läse, und da sie fand, daß ich noch nicht über Kinderschriften für das Alter von zwölf Jahren hinausgekommen war, so bekam sie, wie es schien, einen Schreck. Ich merkte, was in ihr vorging, und beobachtete sie aufmerksam. Volle zwei Wochen lang bereitete sie mich gewissermaßen vor, prüfte mich und suchte sich über den Grad meiner Entwicklung und den Stand meiner Bedürfnisse zu vergewissern. Endlich entschloß sie sich, einen Anfang zu machen, und auf unserm Tische erschien Ivanhoe von Walter Scott, ein Roman, den ich schon längst gelesen hatte, und zwar mindestens dreimal. Anfangs beobachtete sie in ängstlicher Erwartung den Eindruck, den die Lektüre auf mich machte, als wolle sie ihn genau feststellen und sei seinetwegen in Sorge; schließlich aber verschwand aus unserem wechselseitigen Verhältnis dieses gespannte Belauern, das mir sehr merkwürdig vorkam; wir gerieten beide in flammende Begeisterung, und ich wurde so froh, so froh, daß ich mich nicht mehr vor ihr verstellen konnte! Als wir mit dem Roman zu Ende waren, war sie von mir entzückt.
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