Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
auch kein Mord
»Erlauben Sie, meine Herren Geschworenen, es handelt sich hier um ein Menschenleben, da muß man sehr vorsichtig sein. Wir haben gehört, wie der Ankläger selbst bezeugte, daß er bis heute, bis zum Tag der Gerichtsverhandlung, geschwankt hat, ob er den Angeklagten des vorbedachten Mordes beschuldigen solle, daß er geschwankt hat bis zu diesem verhängnisvollen Brief, der heute dem Gericht vorgelegt worden ist. ›Es ist ausgeführt worden, wie es geschrieben stand!‹ Aber ich wiederhole noch einmal: Er lief zu ihr, einzig und allein ihretwegen, um zu erfahren, wo sie war. Das ist eine feststehende Tatsache. Hätte er sie zu Hause angetroffen, wäre er weiter nirgends hingelaufen, sondern er wäre bei ihr geblieben und hätte nicht gehalten, was er in dem Brief versprochen hatte. Er lief plötzlich und ohne Überlegung hin und dachte dabei vielleicht überhaupt nicht an seinen Brief. ›Er griff sich einen Stößel‹, heißt es – und erinnern Sie sich bitte, wie an diesen Stößel eine ganze Reihe von psychologischen Erörterungen angeknüpft wurde: warum er diesen Stößel als Waffe ansehen und als Waffe ergreifen mußte und so weiter. Hier kommt mir ein ganz einfacher Gedanke in den Kopf: Wenn nun dieser Stößel nicht sichtbar auf dem Küchenbrett gelegen hätte, wo ihn der Angeklagte wegnahm, sondern ordentlich in den Schrank geräumt worden wäre, dann wäre er dem Angeklagten nicht vor Augen gekommen, und er wäre mit leeren Händen, ohne Waffe davongelaufen und hätte vielleicht niemand totgeschlagen. Inwiefern kann ich den Stößel als Beweis dafür anführen, daß er sich absichtlich bewaffnet und mit Vorbedacht gemordet hat? ›Ja, aber er hat doch in den Wirtshäusern ein großes Geschrei vollführt, er werde seinen Vater totschlagen! An jenem Abend jedoch, da er seinen Brief schrieb, war er still und zankte sich im Wirtshaus nur mit einem Gehilfen, weil es ganz ohne Streit bei einem Karamasow nun einmal nicht abgeht.‹ Aber darauf antworte ich: Wenn er einen solchen Mord beabsichtigte, und noch dazu nach einem schriftlich abgefaßten Plan, hätte er sich wohl auch nicht mit einem Gehilfen gestritten; er wäre vielleicht überhaupt nicht ins Wirtshaus gegangen, weil eine Seele, die eine solche Tat vorhat, Stille und Verborgenheit sucht und am liebsten ganz verschwinden möchte, damit niemand sie sieht und hört – und zwar handelt sie so nicht mit Berechnung, sondern instinktiv! Meine Herren Geschworenen, die Psychologie ist ein Stab mit zwei Enden, und wir verstehen uns ebenfalls auf diese Wissenschaft. Was nun das Geschrei betrifft, das er während dieses Monats in den Wirtshäusern veranstaltet hat, so möchte ich bemerken: Wie oft schreien betrunkene Zechbrüder, die aus den Schenken kommen, oder Kinder, die sich miteinander zanken: ›Ich schlage dich tot!‹ Aber sie schlagen keinen tot. Und auch dieser verhängnisvolle Brief – nun, ist der nicht ebenfalls der Ausfluß der gereizten Stimmung eines Betrunkenen? Steht er nicht auf gleicher Stufe mit dem Geschrei eines Menschen, der aus der Schenke herauskommt: ›Ich schlage euch alle tot!‹ Warum muß er anders aufgefaßt werden? Warum konnte es nicht so sein? Warum ist dieser Brief verhängnisvoll und nicht vielmehr lächerlich? Der Grund ist der, daß die Leiche des ermordeten Vaters gefunden worden ist und daß ein Zeuge den Angeklagten mit einer Waffe im Garten auf der Flucht gesehen hat und selbst von ihm zu Boden geschlagen wurde; also ist alles so ausgeführt worden, wie es geschrieben stand, und darum ist auch der Brief nicht lächerlich, sondern verhängnisvoll. Gott sei Dank, wir sind an den Kernpunkt gelangt: ›Wenn er im Garten war so bedeutet das, er hat auch den Mord begangen.‹ In diesen beiden Sätzchen erschöpft sich alles, die ganze Anklage: ›Er war, also bedeutet das zweifellos...‹ Doch wenn das nun nichts ›bedeutet‹, obgleich er ›war‹? Oh, ich gebe zu, daß dieses Zusammentreffen der Tatsachen wirklich eine gewisse Überzeugungskraft hat. Aber betrachten Sie doch alle diese Tatsachen einzeln, ohne sich durch ihr Zusammentreffen einschüchtern zu lassen: Warum will die Anklage zum Beispiel um keinen Preis die Wahrheit der Aussage des Angeklagten anerkennen, daß er vom Fenster seines Vaters weggelaufen ist? Erinnern Sie sich bitte, in welchen Sarkasmen sich die Anklage sogar über die respektvollen und ›frommen‹ Gefühle ergeht, die den Mörder auf einmal überkommen hätten. Wie,
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