Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
wieder ein. ›Wenn er davongelaufen ist, ohne den Mord begangen zu haben – wer hat denn dann den alten Mann ermordet?‹ Ich wiederhole, die ganze Logik der Anklage ist folgende: ›Wer hat den Mord begangen, wenn nicht er? Es ist niemand vorhanden, den man an seine Stelle setzen könnte!‹ Meine Herren Geschworenen, ist dem wirklich so? Kann man tatsächlich niemand an seine Stelle setzen? Wir haben gehört, wie die Anklage uns an den Fingern alle Personen vorzählte, die in jener Nacht in diesem Haus gewesen sind. Es kamen fünf Personen heraus. Drei von ihnen, da stimme, ich zu, dürften kaum für die Tat in Betracht kommen: nämlich der Ermordete selbst, der alte Grigori und seine Frau. Es bleiben somit der Angeklagte und Smerdjakow, und da erklärt nun der Ankläger voller Pathos, der Angeklagte verweise deswegen auf Smerdjakow, weil er auf sonst niemand verweisen könne; wäre noch irgendein sechster da oder auch nur der Schatten eines sechsten, so würde der Angeklagte aus Scham sofort von selbst aufhören, Smerdjakow zu beschuldigen, und auf diesen sechsten verweisen. Meine Herren Geschworenen, warum sollte ich nicht völlig entgegengesetzt schließen können? Es stehen zwei Menschen vor uns: der Angeklagte und Smerdjakow – warum sollte ich nicht sagen können, daß Sie meinen Klienten nur deswegen beschuldigen, weil Sie keinen anderen haben, den Sie beschuldigen könnten? Und Sie haben nur deswegen keinen anderen, weil Sie Smerdjakow in totaler Voreingenommenheit von vornherein von jeder Beschuldigung ausgeschlossen haben. Ja, es ist wahr, auf Smerdjakow verweisen mit Bestimmtheit nur der Angeklagte, seine beiden Brüder und Fräulein Swetlowa, weiter niemand. Dabei gibt es auch sonst noch diesen und jenen, der auf ihn verweist. Es herrscht in der Gesellschaft eine gewisse, wenn auch unklare Gärung; man wirft eine Frage auf, man äußert einen Verdacht, man hört ein undeutliches Gerücht, man spürt, daß eine bestimmte Erwartung in der Luft liegt. Schließlich legt auch ein gewisses Zusammentreffen von Tatsachen ein Zeugnis ab, das sehr charakteristisch, obgleich, wie ich gestehe, ziemlich unbestimmt ist. Erstens dieser epileptische Anfall ausgerechnet am Tag der Katastrophe, den der Ankläger aus irgendwelchen Gründen so eifrig in Schutz zu nehmen und zu verteidigen für nötig hielt. Dann dieser plötzliche Selbstmord Smerdjakows einen Tag vor der Gerichtsverhandlung. Dann die nicht minder überraschende Aussage des älteren Bruders des Angeklagten heute vor Gericht, der bisher an die Schuld seines Bruders geglaubt hat, auf einmal Geld ausliefert und ebenfalls Smerdjakow namentlich als den Mörder angibt. Oh, ich bin mit dem Gerichtshof und der Staatsanwaltschaft völlig darin einig, daß Iwan Karamasow krank ist, daß er ein Nervenfieber hat und daß seine Aussage vielleicht wirklich nur ein verzweifelter, noch dazu vom Fieber diktierter Versuch ist, den Bruder durch Abwälzung der Schuld auf einen Toten zu retten. Dennoch ist wieder der Name Smerdjakow gefallen, hört man wieder etwas Rätselhaftes. Es ist, als wäre hier noch nicht alles ausgesprochen, meine Herren Geschworenen, als wäre die Sache noch nicht beendet. Und vielleicht wird das Fehlende noch ausgesprochen werden. Aber lassen wir das vorläufig – die Zukunft wird wohl Licht in die Angelegenheit bringen. Das Gericht hat vorhin beschlossen, die Sitzung fortzusetzen; einstweilen jedoch, während wir auf neue Aufklärung warten, könnte ich die eine oder andere Bemerkung machen, zum Beispiel zu der Charakteristik des verstorbenen Smerdjakow, die uns der Ankläger in so feiner, talentvoller Weise vorgetragen hat. Doch bei aller Bewunderung seines Talents kann ich mich mit dem Inhalt dieser Charakteristik nicht völlig einverstanden erklären. Ich bin bei Smerdjakow gewesen, ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen; er hat auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht. Gesundheitlich stand es schlecht mit ihm, das ist richtig; was aber seinen Charakter und sein Herz betraf – o nein, da war er durchaus kein so schwacher Mensch, wie die Anklage angenommen hat. Vor allem fand ich bei ihm keineswegs jene Schüchternheit vor, die uns der Ankläger in so markanter Weise beschrieben hat. Auch Offenherzigkeit war bei ihm nicht vorhanden, im Gegenteil, ich stieß auf ein furchtbares Mißtrauen, das sich hinter Naivität versteckte, und auf einen Verstand, der sehr vieles zu begreifen vermochte. Oh, wenn die Anklage ihn für schwachsinnig
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