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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Dostojewski
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Zuchthauswache und Rutenstrafe von der Zuchthausobrigkeit erwarteten.
    Leo Tolstoi hatte einmal eine durchaus exakte und richtige, doch für sein ferneres Leben eigentlich ganz unnütze mathematische Rechnung angestellt: nämlich, daß er einem alten Bettler hätte zweitausend Rubel geben müssen, damit seine Gabe den zwei Kopeken des Zimmermanns Ssemjon gleichkäme. Er war sogar im Zweifel, ob er überhaupt berechtigt sei, den Armen zu helfen, und diese Zweifel scheinen von ihm auch heute noch nicht gelöst zu sein. Dem Zuchthäusler Dostojewski konnten solche Zweifel überhaupt nicht kommen. Das Leben selbst hatte sie für ihn gelöst, indem es ihn in eine Lage versetzte, wo er kein Almosen geben, sondern welches empfangen mußte.
    »Es war bald nach meiner Ankunft im Zuchthaus,« erzählt Dostojewski. »Ich kehrte von der Morgenarbeit ganz allein mit einem Soldaten unserer Wache zurück, und da begegneten mir unterwegs eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter, einem etwa zehnjährigen Mädchen, das wie ein Engel reizend war. Ich hatte beide schon einmal gesehen. Die Mutter war eine Soldatenwitwe. Ihr Mann, ein junger Soldat, war während seiner Untersuchungshaft im Lazarett gestorben, als auch ich dort in der Gefangenenabteilung lag. Die Frau und sein Töchterchen waren zum Abschied hingekommen, und beide hatten herzbrechend geweint. Als nun die Kleine mich erblickte, errötete sie und flüsterte der Mutter schnell etwas zu; diese blieb sogleich stehen, suchte ihr Schnupftuch hervor, löste den Knoten und gab der Kleinen eine Viertelkopeke, die mir sogleich damit nachgelaufen kam: ›Da, Unglücklicher, nimm um Christi willen dies Kopekchen!‹ sagte sie, indem sie mir gerade vor die Füße lief und sich bemühte, mir die kleine Münze in die Hand zu drücken. Ich nahm ihr ›Kopekchen‹, und die Kleine kehrte vollauf befriedigt zu ihrer Mutter zurück. Ich habe lange die kleine Münze aufbewahrt.« Soviel uns auch die Biographen Tolstois versichern, daß es ganz unwesentlich sei, ob er sein Vermögen auch tatsächlich verteilt habe, denn er habe aufgehört, daraus irgendwelchen Nutzen zu ziehen, müssen wir uns doch sagen, daß Tolstoi wohl nie in seinem Leben jene Scham und jenen Stolz, jenen Schmerz und jene Freude gekannt hat, die Dostojewski, als ihm das Kind das Almosen reichte, empfunden hat.
    »Wir standen in der Kirche zusammengedrängt dicht bei der Tür, auf dem letzten Platz, von wo aus man nur die tiefe Stimme des Diakons hörte und hin und wieder den schwarzen Talar und das Silberhaar des Geistlichen sah. Ich dachte daran, wie ich früher als Kind zuweilen auf das am Eingang der Kirche zusammengedrängte Volk geschaut hatte das vor dicken Epauletten zur Seite trat, oder vor einem wohlgenährten Herrn oder einer aufgeputzten, doch sehr frommen Dame, die alle unbedingt zur ersten Reihe strebten und auch dort noch jeden Augenblick bereit waren, um einen besseren Platz zu streiten. Damals hatte es mir geschienen, daß dort am Eingang anders gebetet wurde als bei uns: dort betete man so still und andächtig, mit so aufrichtiger innerer Demut. – Jetzt stand ich selbst auf diesem Platze, ja nicht einmal auf diesem! Wir waren gefesselt und gebrandmarkt, uns mieden alle, und man fürchtete uns sogar. Jedesmal gab man uns Almosen, und ich weiß noch, wie mir das sogar gewissermaßen angenehm war, es lag eine gewisse verfeinerte, ganz besondere Empfindung in diesem eigenartigen Freudegefühl. ›Mag es nur, mag es denn sein, wenn es einmal so ist!‹ dachte ich. Die Sträflinge beteten andächtig und ein jeder von ihnen brachte jedesmal seine armselige Kopeke mit, sei es für ein Licht oder sei es für die Sammelbüchse. ›Auch ich bin doch ein Mensch.‹ dachte oder fühlte er vielleicht, wenn er seine kleine Münze hineinwarf, – ›vor Gott sind alle gleich ...‹ Das Abendmahl nahmen wir nach dem Frühgottesdienst. Als der Geistliche mit dem Kelch in der Hand die Worte sprach: ›... und nimm mich auf wie den Schächer.‹– da knieten alle mit einem Mal nieder, während die Ketten aufklirrten, denn ein jeder schien die Worte buchstäblich auf sich zu beziehen.«
    Diese Erfahrung gab Dostojewski das Recht, später zu behaupten, daß er mit dem einfachen Volk gelebt habe und es gut kenne. Und als er zugleich mit den andern Zuchthäuslern innerlich die Worte nachsprach: »Nimm mich auf wie den Schächer,« so betrachtete er nicht abstrakt, sondern fühlte und maß mit seinem ganzen Wesen den Abgrund, der

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