Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
geworden; bei der modernen Wissenschaft und den treibenden Kräften der heutigen Menschheit, hätte er sich gar nicht behaupten können‹«. – »Dieser Mensch beschimpfte in einem Gespräch mit mir Christus!« Dostojewski kann sich selbst nach dreißig Jahren nicht beherrschen und wütet, als ob das Gespräch erst am Vorabend stattgefunden hätte. »Dieser Mensch beschimpfte Christus, und doch hätte er es nie unternehmen können, sich selbst und alle die Leute, die die Welt bewegen, mit Christus zu vergleichen. Er konnte unmöglich einsehen, wie kleinlich, gehässig, ungeduldig, gemein und vor allen Dingen ehrgeizig sie alle sind. Er hat sich nie die Frage vorgelegt: Was könnten wir denn an seine Stelle setzen? Doch nicht uns selbst, die wir so schlecht sind? Nein, er hat sich nie irgendwelche Gedanken über seine eigene Schlechtigkeit gemacht; er war mit sich im höchsten Grade zufrieden, und darin äußert sich eben der niederträchtige, schändliche Stumpfsinn seiner Person.«
Wenn also jemand am Sozialismus, wenigstens an dem, den die damalige Regierung verfolgte, unschuldig war, so war es natürlich Dostojewski. Er wurde zum Märtyrer einer Sache, an die er keinen Augenblick glaubte, die er vielmehr mit seiner ganzen Seelenkraft haßte, und wäre um dieser Sache wegen beinahe zugrunde gegangen. Was zog ihn denn so zu diesen Leuten hin? Vielleicht dasselbe, was ihn sein ganzes Leben lang gezwungen hatte, so sehr nach dem Schwierigsten, Unglücklichsten, Grausamsten und Schrecklichsten zu streben, als ob er ahnte, daß er ein Martyrium durchmachen müsse, um das volle Maß seiner Kräfte zu erreichen? Oder war es nur ein »Überschreiten der äußersten Grenzen« und ein Spielen mit der Gefahr mitten unter politischen Verschwörern, wie er auch immer und überall mit der Gefahr spielte, – später im Kartenspiel, in der Wollust, in mystischen Schrecken?
Acht Monate saß er in der Peter-Pauls-Festung. Einer seiner Genossen begann in der Gefangenschaft den Verstand zu verlieren. Fjodor Michailowitsch las aber in der Festung zwei Beschreibungen von Reisen ins Heilige Land und die Werke des heiligen Demetrius von Rostow. »Die letzteren,« schreibt er, »haben mich sehr interessiert.« Er erwartete die Verkündung des Todesurteils und bekam es auch tatsächlich zu hören.
»Als man die Verurteilten nach dem Ssemjonowschen Platze gebracht und drei von ihnen an die Pfosten gebunden hatte,« berichtet Speschnjow, »war Fjodor Michailowitsch zwar tief erschüttert, verlor aber nicht die Fassung. Er war bleich, bestieg aber ziemlich rasch das Schafott; er zeigte eher nervöse Hast, als Gebrochenheit. Man wartete nur noch auf das Kommando »Feuer!«, und alles wäre vollbracht. In diesem Augenblick winkte man mit einem Tuch, und die Hinrichtung wurde sistiert. Als man aber Grigorjew, – es war derselbe, der noch in der Festung den Verstand zu verlieren begonnen hatte, vom Pfosten losband, wurde er blaß wie der Tod und verlor endgültig den Verstand.« Nach dem Zeugnis eines der Delinquenten »wurde die Nachricht von der Begnadigung von vielen durchaus nicht als ein Glück, sondern eher als Beleidigung aufgenommen«, oder, wie sich Dostojewski später ausdrückte, »als eine häßliche und überflüssige Beschimpfung«.
Diese Augenblicke, die Dostojewski in Erwartung eines nicht nur wahrscheinlichen, sondern ihm in fünf Minuten bestimmt bevorstehenden Todes verbracht hatte, hatten seinem ganzen späteren geistigen Leben ein unauslöschliches Mal aufgeprägt; sie hatten gleichsam den Gesichtswinkel, unter dem er die ganze Welt betrachtete, verschoben: er hatte etwas begriffen, was ein Mensch, der nie in Erwartung eines sicheren Todes geschwebt hat, unmöglich begreifen kann. Das Schicksal hatte ihm eine gewisse große Erkenntnis verliehen, eine seltene Erfahrung, ein neues Maß für alles Sein; und diese Gaben gingen nicht verloren, sondern wurden von ihm zu erstaunlichen Entdeckungen ausgenützt. »Denken Sie mal nach,« sagt Dostojewski durch den Mund seines »Idioten«: »Nun, nehmen Sie zum Beispiel die Folter: da gibt es Schmerzen und Wunden, körperliche Qual, die aber lenkt einen doch von den seelischen Qualen ab, so daß einen bis zum Augenblick des Todes nur die Wunden quälen. Den größten, den quälendsten Schmerz aber verursachen vielleicht doch nicht die Wunden, sondern das Bewußtsein dessen, daß, wie man genau weiß , nach einer Stunde, dann nur nach zehn Minuten, dann nach einer halben Minute,
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