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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Storm
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Veranlassung hätte ich zu solch offizieller Erkundigung gehabt?
    Der hohe, seitwärts von dem Hause fortlaufende und mit einem dichten Dornenzaun besetzte Erdwall begrenzte nach der Straße hin den durch alte Obstbäume verdüsterten Garten, welcher sich nach einer Waldwiese abwärts senkte. Im Sommer freilich war alles durch den Zaun verdeckt; aber jetzt war es Herbst, die Drosseln fielen in die roten Beeren, und eine Fülle bunten Laubes war von den Alleebäumen schon auf den Weg gefallen. Als ich eines Spätnachmittags jetzt dort vorüberging, gewahrte ich eine entblätterte Stelle in dem Zaun und blieb stehen, um einen Blick in das sonst unsichtbare Gartengrundstück hineinzuwerfen. Ich hatte mich auf den Fußspitzen erhoben, aber ich erschrak fast: ein blasses und – so erschien es mir – wunderbar schönes Knabenantlitz mit dunkelgelocktem Haupthaar stand dicht vor dem meinen und sah von der anderen Seite mir starr und schweigend entgegen; ich gewahrte noch, daß die großen, gleichfalls dunkeln Augen voll von Tränen standen; dann war es verschwunden, und ich hörte langsame Schritte in den Garten hinab.
    War das der arge Bube, von dem die Leute redeten? Nachdenklich setzte ich meine Abendwanderung fort, denn das Gesicht, welches ich eben sah, einmal mußte ich es schon gesehen haben, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren – aber das ging ja nicht, der Knabe mochte jetzt kaum zwölfe zählen.
    Noch am Abend dieses Tages hörten wir, in dem neuen roten Hause liege die alte Haushälterin im Sterben; aber das Haus selbst war am Nachmittage, als ich dort vorbeigegangen, in seiner gewohnten, wunderlichen Einsamkeit dagestanden, die Gardinen hatten, wie immer, unbewegt hinter den blauen Vorsätzen gehangen, keinen Laut hatte ich vernommen, selbst der schöne wilde Knabe hinter dem Gartenzaune war mir nur wie ein Gespenst erschienen; auch das Sterben wurde hier ganz still besorgt.
    Als ich am andern Tage mit meiner Frau vorüberging, sagte ich: »Im neuen Hause hier soll eine zum Sterben liegen; zu leben scheint man nicht darin.«
    »Dann wird sie schon gestorben sein«, erwiderte sie, indem sie durch die Zaunlücke in den Garten wies; »sieh nur, dort unter dem großen Apfelbaum stehen zwei Frauen und reden miteinander; das ist mir hier noch nimmer vorgekommen.«
    Wir sahen sonst nichts weiter, aber meine Frau hatte recht geschlossen: noch am selben Abend lief es durch das Dorf, die Haushälterin, wie die alte Frau im roten Haus benannt wurde, habe seit jenem Vormittag ihr Tagewerk auf immer eingestellt. Einige Tage später wurde ein Sarg auf der Landstraße an meinem Hause vorbeigetragen, hinter welchem nur ein weißhaariger Mann mit einem Knaben ging, aber der Zug war, als ich vor die Tür kam, schon zu weit entfernt, das Antlitz der beiden konnte ich nicht mehr sehen. Mein Nachbar, der zu mir trat, sagte: »Der arme Bursche sah aus wie der Tod selber; es war seine Großmutter, die sie nun bei der Kirche da begraben; seine Mutter soll er nie gekannt haben.«
    ›Der arme Junge!‹ dachte auch ich; ›was wird aus ihm, wird der Alte sich allein nun mit ihm abgeben?‹
    Als ich mit Frau und Kindern am Nachmittagstee saß, bei dem goldnen Herbstsonnenschein noch einmal im Freien auf der Terrasse, brach aus dem Armenhausgarten, welcher derzeit mit dem unseren zusammenstieß, ein lautes Schreien und Toben, unterbrochen durch die scharf redende Stimme des Armenvaters, zu uns herüber, so daß das Gespräch aufhörte und alles dorthin horchte. Die schreiende Stimme kam offenbar von einem Knaben.
    »Ich fürchte«, sagte lächelnd unser Nachbar, der neben uns saß, »er wird nicht mit ihm fertig!«
    »Mit wem?« frug ich. »Wer ist denn das?«
    »Nun, das wissen Sie nicht? Der Junge von dem Riew’; er ist gleich vom Kirchhof in das Armenhaus gebracht. Er mag sich das wohl nicht gedacht haben; mit dem Erben ist es auch wohl eitel Wind! «
    »Unglaublich! Empörend!« rief meine Frau, während drüben das Geschrei noch immer fortging.
    Der Nachbar zuckte die Achseln. »Ja, du lieber Himmel, der Bengel ist ein Ausbund, von den schlimmsten; erst gestern haben sie ihn wieder aus der Institutsschule fortgewiesen; was soll der Alte mit ihm aufstellen? Er hat die Frau nun auch nicht mehr zur Hülfe.«
    Aber die Frauen an unserem Tische schüttelten gleichwohl die Köpfe.
    Ob dann der Armenvater endlich das aufgeregte Kind beruhigt hatte oder ob die Szene nach einem andern Teil des Hauses verlegt war, kann ich nicht sagen; aber

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