Werke
Nachtgesicht, das mir mit geschlossenen Augen offenbar ward, denn mein Leib lag in meiner Kammer oben im Wohnhause und von Schlaf bezwungen. Aber gleichviel; ich sah, ich erlebte es.
Mir ist noch wohl erinnerlich, es hatte damals ein Scharlach in der Stadt gewütet, und viele Kinder, besonders männlichen Geschlechts, wurden hingerafft, uns Primaner aber hatte es nicht berührt. Gleichwohl mochte meine Phantasie unbewußt davon ergriffen sein; aber die Seuche war schon im Erlöschen.«
Der Erzähler sah ein paar Augenblicke vor sich hin. »Es war in einer Oktobernacht«, begann er dann wieder; »ich hatte mich lange schlaflos in meinem Bett umhergeworfen, denn vor meinem Fenster, das nach dem Garten hinausging, schüttelte der Sturm die schon halb entlaubten Baumkronen, fuhr dann davon, weiter und weiter, daß es totenstill ward, bis er nach kurzer Weile, wer weiß woher, zurückkam und sich tosender als vorher auf die Bäume und gegen die feste Mauer des Hauses warf. Endlich wurde es schwächer; ich hörte schon nichts mehr, ich stand unten in jenem Torfraum auf den aufeinandergepackten Kisten und schaute durch die schwarze Fensterhöhle in den einsamen Hühnerhof hinab. Es war erst kalte Morgenfrühe, wo noch kein Leben sich regt; auch in den Lüften war es still, und der Hof schien gänzlich öde; ein letztes Dämmern lag noch in den Ecken. Ich weiß nicht, wie es kam, aber plötzlich, mir gegenüber in der Mitte des Hofes, sah ich etwas: in einem Dunste, der aus dem Boden aufzuziehen schien – mir war, ich hätte es einmal an einem schwülen Mittsommerabend auf dem Kirchhof über dem Hügel eines Frischbegrabenen so gesehen –, darin stand eine Gruppe von Knaben, einer an dem andern; ihre Arme hingen herab, ihre welken Köpfe lagen schief auf ihrer Schulter, von den Augen sah ich nichts. Aber meine Blicke hafteten nicht auf ihnen; in ihrer Mitte, sie ein wenig überragend, stand die Gestalt eines etwa dreizehnjährigen Mädchens; ein schlichtes aschfarbenes Gewand zog sich bis an ihren Hals hinauf, wo es mit einer Schnur zusammengezogenwar. Schön war sie eben nicht; ein etwas fahlblondes Haar lag ein wenig wirr auf ihrem kleinen Kopfe, aber aus den feinen durchsichtigen Zügen ihres Antlitzes blickten ein Paar lichtgraue Augen unter dunklen Wimpern in die meinen, unablässig, sehnsüchtig, als solle ich sie nie vergessen; und mit unsäglichem Erbarmen blickten sie mich an: eine verzehrende Wonne überkam mich, ich hätte unter diesen Augen sterben mögen. ›Wer bist du? Was willst du, Holdseligste, die ich jemals erblickte?‹ Aber nur in meinem Innern sprach es so; die Worte blieben Gedanken; ich fürchtete den Blick des geheimnisvollen Kindes zu verlieren; ich konnte auch vielleicht nicht sprechen.
Da war mir, als würde ihr Antlitz undeutlicher; nur aus ihren Augen drang es stärker und, mir schien es, ängstlicher zu mir, aber schon verblaßte alles. Da raffte ich mich zusammen und rief, als ob das Leben mir entrissen würde: »Bleib, o bleib! Sag, wer bist du! Oh, sag es, sag es!«
Ich wartete eine Weile; dann war’s, als käme ein Hauch aus den verschwindenden Nebeln zu mir zurück, und nun war alles still und leer, nur einen wirren Laut noch hörte ich; wie mir bald klar wurde, hatte ich ihn selber ausgestoßen; dann erwachte ich. Ein Morgenschimmer spielte schon an den Wänden, aber kein Baumrauschen kam zu mir herein; der Sturm hatte sich gelegt. Ich schloß die Augen und wühlte mich in mein Kissen, ich wollte das Wesen, das sich mir offenbart hatte, das mich mit einer angstvollen Sehnsucht füllte, hinter den geschlossenen Lidern noch behalten.
Als ich um sieben Uhr zum Tee herabkam, strich meine Mutter mit ihrer Hand über meine Stirn. »Du hast nicht gut geschlafen; der Sturm hat dich wohl auch gestört, mein armer Junge!« sagte sie. Ich ließ mir ihre Zärtlichkeit gefallen, suchte ihr möglichst herzlich zuzunicken und eilte dann in die Klasse.
Mein Kopf mag noch halb im Taumel gewesen sein; als ich den Absatz der Treppe, die nach unserer Prima hinaufführte, erreicht hatte, blieb ich unwillkürlich stehen und griff nach dem hinauflaufenden Geländer, als ob ich eines Halts bedürfe: die Augen des Nachtkindes hatten mich wieder angesehen; mir war, als ob das Geheimnis des Weibes sich mir plötzlich offenbaren wolle. Von unten hörte ich Schritte heraufkommen, ich wußte auch, daß das der Rektor sei; ich fühlte, wie er seine strengen Augen auf mich wandte, und hörte gleich darauf, wie
Weitere Kostenlose Bücher