Werke
droben die Klassentür aufgemacht und wieder zugedrückt wurde. Endlich ließ meine Hand das Geländer fahren, und ich ging in die Schulstube und setzte mich still an meinen Platz. Einige fragende Blicke des Rektors streiften mich; ich aber bemühte mich ernstlich, mich aus der Welt des Traumes in die poetische der Sophokleischen »Antigone« zu versetzen.
Aber die Grübelei, die schwärmerische Versenkung begleiteten mich auch ferner; es war mir – vergiß mein Jünglingsalter nicht – unmöglich, jenes Nachtgesicht nur für ein Erzeugnis des eigenen Innern anzusehen. Aber wer war denn jenes geheimnisvolle jungfräuliche Kind? Schon bei der Erinnerung an sie fühlte ich einen süßen Schauder durch alle meine Nerven rieseln. War sie ein Genius des Todes, der mich im Traume zuvor noch einmal mitleidig angeschaut hatte? Ich versenkte mich immer tiefer, ich stellte mir lebhaft vor, daß ich in meinem letzten Augenblick sie wiedersehen, daß ich vielleicht mit jenen toten Knaben sie begleiten könnte. Aber waren diese nicht nur eine Beigabe, die meine eigene Phantasie ihr gegeben hatte, ein Rest des Eindrucks, den das Knabensterben in unserer Stadt mir hinterlassen hatte?
– – So sah es damals in mir aus – du könntest wohl lachen, aber tu es nicht, Hans! – Soviel übrigens ist mir später klargeworden: ein Glück, daß es damals noch keine Maturitätsexamina auf unserer Schule gab; ich wäre derzeit schwerlich durchgekommen.«
Schon mehrmals, während Franz erzählte, hatte ich es vom Hofe her an die Scheiben pochen hören; jetzt geschah es wieder in verstärktem Maße. Ich wandte mich und sah nun, daß die Dohle mit ihrem starken Schnabel dies Geräusch hervorbrachte.
Mein Freund war aufgestanden. »Ja, Klaas«, rief er »das hilft nun nicht!«, und zu mir sich wendend, setzte er hinzu: »Die arme Kreatur ist eifersüchtig; sie hat in den vier Wochen, die ich hier nun zugebracht habe, mich mit niemandem als mit ihr selber reden hören – und die Unvernünftigen haben feinere Ohren als wir Menschen!«
Ich sah ihn an: solche Intimität zu Tieren hatte ich nie bei ihm vermutet; er mußte sehr vereinsamt sein. Ich schwieg indes, und Franz nahm aus einem Kästchen, das auf einem Eckschrank stand, eine Handvoll Futter und warf es, nachdem er den freien Fensterflügel geöffnet hatte, auf den Hof hinaus. Fast gleichzeitig war auch das Krähentier von den Scheiben fortgeflattert und machte sich, ein paar häßliche Laute ausstoßend, über die Futterstücke her. Franz sah wie abwesend dem ein Weilchen zu; dann setzte er sich langsam wieder zu mir in das Sofa und rieb sich mit der flachen Hand die Stirn.
»Ja, Hans«, begann er dann aufs neue, »es war damals so ganz anders; wir müssen manches Jahr zurück. – Ich bekam trotz alledem ein braves Abgangszeugnis; der gute Rektor, dessen Gunst ich einige Jahre schon besaß, hatte mir die Zerstreutheit der letzten Monde nicht angerechnet; nur einmal hatte er gesagt: »Lieber Jebe, vergessen Sie nicht, Sie sind zur Zeit noch immer hier in unserer Prima; es tut nicht gut, wenn die Gedanken den gegenwärtigen Pflichten zu sehr vorauseilen!« Er glaubte, die bevorstehende Universitätsfreude habe mir den Kopf befangen.
Dann kam sie wirklich, die Hochschule mit dem flotten Korpsleben und den vielen Professoren, mit all den neuen Eindrücken, die ich oft widerwillig genug empfing, und, als so manches Unliebsame abgeschüttelt war, im dritten und den folgenden Semestern mein Studium, das ich freilich ernsthaft genug betrieb. Unter diesem neuen Leben verschwand so vieles, dem ich ewige Dauer zugetraut hatte; nur eines nicht: der Eindruck jener kindlichen Luftgestalt, die ich nur im Traum gesehen hatte, lag unverrückbar im Grunde meiner Seele; keine der halb- oder vollgewachsenen Schönen, die meinen Mitstudenten das Hirn verwirrten, konnte ihn erschüttern. Freilich, tief lag es, und niemand, ich selber wußte oft nicht darum; auch als du dann zu mir tratst und wir vertraut wurden, wie es mir mit keinem noch geschehen war, ja selbst, wenn wir in jene geheimnisvolle Region des Seelenlebens uns einmal verloren – mein eigen Nachtgesicht barg ich nur um so fester, wie im Innersten meines Lebens, gleich einem heiligen Keim, den ich vor aller Störung meiner Zukunft zu bewahren hatte.
– – Du weißt, Hans, daß ich nach beendigten Studien mich als Arzt, speziell für Frauenkrankheiten, in der Stadt niederließ, die noch gegenwärtig mein Wohnort ist. Ich war dabei nicht
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