Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Storm
Vom Netzwerk:
und indem er sich nach seiner Schenke wandte, sagte er bei sich selber: ›Der arme alte Mann ist kindisch geworden.‹
    Hinzelmeier ließ den Kopf auf seine Brust sinken und erkundigte sich, wer nach ihm gefragt habe.
    »Es war nur eine arme Dirne«, sagte der Wirt, »sie trug ein weißes Kleid und ging mit nackten Füßen.« Da lächelte Hinzelmeier und sagte leise: »Das war die Rosenjungfrau, nun wird es bald besser werden. Wohin ist sie gegangen?«
    »Es schien ein Blumenmädchen zu sein«, sagte der Wirt, »wenn Ihr sie sprechen wollt, Ihr werdet sie leicht an den Straßenecken finden können.«
    »Ich muß ein Weilchen schlafen«, sagte Hinzelmeier, »gebt mir eine Kammer und wenn der Hahn kräht, dann klopft an meine Tür.«
    Nun gab der Wirt ihm eine Kammer, und Hinzelmeier legte sich zur Ruhe. Er träumte von seiner schönen Mutter; er lächelte, sie sprach im Traume zu ihm. Da flog Krahirius durch das offene Fenster und setzte sich zu seinen Häupten auf das Bett. Er sträubte seine schwarzen Federn und hackte mit seiner Klaue sich die Brille von dem Schnabel. Dann stand er unbeweglich auf einem Bein und sah auf den Schlafenden hinunter. Der träumte weiter, und seine schöne Mutter sprach zu ihm: »Vergiß die Rose nicht!« Der Schlafende nickte leise mit dem Kopfe; der Rabe aber öffnete die Klaue und ließ die Brille auf seine Nase fallen.
    Da verwandelten sich seine Träume; seine eingefallenen Wangen begannen zu zucken, er streckte sich lang aus und stöhnte. – So kam die Nacht.
    Als im Zwielicht der Hahn gekräht hatte, klopfte der Wirt an die Kammertür; Krahirius reckte die Flügel und zupfte seinen Federbalg zurecht; dann schrie er »Krahira! krahira!« Hinzelmeier richtete sich mühsam auf und starrte um sich her; da sah er durch die Brille, die noch auf seiner Nase saß, zur Kammertür hinaus, über ein weites, ödes Feld; dann weiterhin auf einen mählich ansteigenden Hügel; auf diesem, unter dem Rumpfe einer alten Weide, lag ein grauer, flacher Stein; die Gegend war einsam, kein Mensch zu sehen.
    ›Das ist der Stein der Weisen!‹ sagte Hinzelmeier zu sich selber. ›Endlich, endlich wird er dennoch mein werden!‹
    Hastig warf er seine Kleider über, nahm Stab und Ranzen und schritt zur Tür hinaus. Krahirius flog zu seinen Häupten, knappte mit dem Schnabel und schlug beim Fliegen Purzelbäume in der Luft. So wanderten sie viele Stunden. Endlich schienen sie ihrem Ziele näher zu kommen; aber Hinzelmeier war ermüdet, seine Brust keuchte, der Schweiß troff von seinen weißen Haaren; er stand still und stützte sich auf seinen Stab. Da kam aus der Ferne, hinter ihm, ganz aus der Ferne, fast wie ein Traum, ein Gesang zu ihm herüber:
     
    Rinke, ranke, Rosenschein,
    Laß ihn nicht allein, allein!
    Halt ihn fest und hol ihn ein,
    Rinke, ranke, Rosenschein.
     
    Das spann sich wie ein goldenes Netz um ihn her; er ließ den Kopf auf seine Brust sinken; aber Krahirius schrie: »Krahira! krahira!«, da war das Lied verschollen, und als Hinzelmeier die Augen wieder aufschlug, stand er am Fuße des Hügels.
    ›Nur eine kleine Weile noch‹, sagte er zu sich selber und ließ noch einmal seine müden Füße wandern. Als er aber den großen, breiten Stein allmählich in der Nähe sah, da dachte er: ›Den wirst du nimmer heben.‹
    Endlich hatten sie die Höhe erreicht, Krahirius flog voran mit ausgebreiteten Schwingen und ließ sich auf den Baumstamm nieder; Hinzelmeier wankte zitternd hinterher. Als er aber den Baum erreicht hatte, brach er zusammen, der Wanderstab glitt aus seiner Hand, sein Kopf sank auf den Stein zurück; doch in demselben Augenblick fiel auch die Brille von seiner Nase. Da sah er tief am Horizonte, am Rande der öden Ebene, die er durchwandert hatte, die weiße Gestalt der Rosenjungfrau; und noch einmal hörte er aus weiter Ferne:
    Rinke – ranke – Rosenschein.
    Er wollte aufstehen, aber er vermochte es nicht mehr; er streckte seine Arme aus, aber ein Frösteln lief über seine Glieder; der Himmel wurde grau und grauer, der Schnee fing an zu fallen, Flocke um Flocke, es schimmerte und flirrte und zog weiße Schleier zwischen ihm und der fernen, nebelhaften Gestalt. Er ließ die Arme fallen, seine Augen sanken ein, sein Atem hörte auf. Auf dem Weidenstumpf zu seinen Häupten steckte der Rabe den Schnabel zum Schlaf in seine Flügeldecken. – Der Schnee fiel über sie beide.
    Die Nacht kam, und nach der Nacht kam der Morgen, und mit dem Morgen kam die Sonne, die schmolz

Weitere Kostenlose Bücher