Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
Vom Netzwerk:
Junge.«
    Guga gehorchte. Ein Vogel hopste auf seine Schulter.
    »Das ist Sofia. Eine Drossel«, erklärte Guram. »Sie hat sich den Flügel gebrochen. Ist zwar alles wieder gut, aber die Dame lässt sich nicht dazu überreden, in die Wildnis zurückzukehren. Will sich bedienen lassen, das Weibsstück!« Guram stellte einen Teller mit Walnusskernen auf den Tisch neben Guga. »Trinken wir!«
    Guga trank. Der Kognak rann feurig und belebend seine Kehle hinunter. Sorgenvoll dachte er an die Rückfahrt über die desaströse Straße nach Sagaredscho. Der Hund, der aussah wie ein Wolf, sprang zu Guga aufs Sofa. Die Drossel schien das nicht zu stören. Sie hopste auf Gugas Knie und pickte an der Uniformhose.
    »Bist ein guter Junge«, sagte der Alte. »Sie war hier.«
    Guga stutzte, verschluckte sich am Kognak.
    »Deswegen bist du gekommen, oder?«
    Guga konnte nur nicken. Der Alte hieb ihm auf den Rücken. »Komm zu dir.«
    Guga sah die grauen Bartstoppeln in seinem Gesicht, krumm und dick wie Wurzelstöcke abgeholzter Bäume. Das rechte Ohr des Tierarztes war irgendwann verletzt und krumm wieder angenäht worden; die obere Hälfte der Ohrmuschel saß zu weit hinten.
    »Das habe ich selbst genäht!«, erklärte Guram. »Das war noch, als wir jemand waren. Wir. Die Sowjetunion!« Er hob seinen Pullover an. Drunter trug er ein weißes Hemd, gespickt mit Orden. »Sieh dir das Lametta an. Ich bin stolz darauf. Jawohl! Ich war nie Kommunist. Aber in diesem Land gab es eine Menge gute Sachen. Genau. Ich habe für den Zirkus gearbeitet.« Er trank sein Glas aus und füllte es sofort nach. »Bin mit dem Moskauer Staatszirkus auf Reisen gegangen. Das Ohr hat mir ein Kamel abgebissen. Ich hab ihm den Knorpelfetzen aus den Zähnen gezogen und alles selbst wieder geflickt.«
    Guga war froh, dass der Alte ihm nachschenkte.
    »Das waren tolle Zeiten, kannst du dir gar nicht vorstellen. Was haben wir gesoffen und gelogen und getrickst! Wir waren die freiesten Menschen der Welt!« Er lachte grollend. Die dreibeinige Katze schlich zu ihm und kroch auf seinen Schoß. »Meine Frau ist weggelaufen und meine Söhne sind zu beschäftigt mit Computern, Fernsehen, Telefonen und anderem Blödsinn, um sich um ihren Vater zu kümmern. Um mich muss man sich nicht kümmern. Ich komme zurecht. Wenn es soweit ist, gehe ich in den Wald.« Er wies zum Fenster hinaus. Jenseits des weitläufigen Grundstücks konnte Guga den Wald sehen, der sich wie ein grüner Pelz den Berg hinaufzog. »Willst du keine Nüsse?«
    Pflichtschuldig griff sich Guga eine Handvoll. Er war erpicht darauf, möglichst schnell auf Clara Cleveland zu sprechen zu kommen, doch Guram folgte seinem eigenen Rhythmus. Fasziniert sah Guga, wie er die Katze streichelte. Der Atem der schwarzen Katze und Gurams gingen synchron.
    »Ein armes Mädchen«, sagte der Tierarzt schließlich. Er hob die Katze von seinen Beinen und ging zur Anrichte, wo ein winziger Kerzenleuchter stand. Er klebte drei Kerzen in die Halter und zündete sie an. »Ich habe sie ein Ei tragen lassen.«
    Guga schluckte.
    »Da kannst du ruhig lachen.« Guram murmelte ein Gebet, mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf. Das Haar hing ihm ins Gesicht. Die Strähnen sahen aus wie ein gefrorener Wasserfall. »Das ist ein altes, sehr altes Heilmittel. Glaub mir, ich bin herumgekommen in Asien, und ich habe viel gelernt, viel gelernt. Ich war in Dörfern, die ahnten nicht mal, dass sie von Moskau regiert wurden. Sie wussten nützliche Dinge über Krankheit und Kummer. Also. Das Ei. Das Ei ist der Beginn des Lebens. Auch du bist aus einer Eizelle entstanden, mein Lieber. Das Ei nährt und schützt. Nun ist es so, dass viele Menschen zu viel von allem haben. Zu viele Gifte in sich, zu viel Fleisch, zu viel Alkohol, zu viel Traurigkeit, zu viel Enttäuschung, zu viel Lieblosigkeit, zu viele Zweifel.«
    Ertappt neigte Guga den Kopf und blickte direkt in die gelben Augen des Wolfes.
    »Ich habe ihn, seit er ein Welpe war«, sagte Guram. »Ich habe ihn gut erzogen, keine Angst. Das Ei zieht das Schlechte aus deinem Körper. Sie trug es sieben Tage. Dann sind wir auf den Berg gestiegen, zum Bach, haben das Ei aufgeschlagen und dem Wasser übergeben. Das Innere war pechschwarz.«
    Guga nickte, als hätte er irgendetwas verstanden von dem, was der Alte ihm erzählt hatte. »Haben Sie sie erkannt?«
    »Komm mit!«
    Guga folgte dem Tierarzt, der durch eine zweite Tür verschwand. Sie standen in einer engen Stube. Ein Bett, ein Schrank, ein

Weitere Kostenlose Bücher