Wernievergibt
ab.
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Mzcheta, die alte Hauptstadt Georgiens, schmiegte sich in einem beinahe perfekten 90-Grad-Winkel an die Ufer zweier Flüsse. Hier flossen der Mtkwari aus Westen und der Aragwi aus dem Großen Kaukasus zusammen. Der eine lehmig braun, der andere beinahe türkisblau. Mein Kopf lehnte an der Marschrutkascheibe. Ich dachte nach. Vielleicht war es nicht leicht, als betuchter Georgier im Westen zu leben. Womöglich wurde man angesprochen. Bekam unanständige Angebote. Wurde sanft mit vorgehaltener Waffe bedrängt, in diverse Geschäfte einzusteigen. Eventuell passierte das auch einer Operndiva.
Juliane und ich hatten diese Möglichkeit durchgesprochen. Ich hätte gern Giorgis Meinung gehört. Er ging nicht an sein Handy. Ich war verwirrt und sehnte mich nach Klarheit und Verständlichkeit.
Wir rauschten über die Autobahn, kreuzten die Schatten karger Berge. Kurz sahen wir die Kathedrale von Mzcheta in der Sonne aufleuchten, bevor der Kleinbus abbog und uns durch ein Gewirr von Straßen schaukelte, um uns im Zentrum der Stadt auszuspucken.
Lia Ketschagmadse wartete auf uns. Eine alte Dame von Julianes Statur und Alter, deren Händedruck Widerstandswille verriet. Ich schaute in leuchtend graue Augen; Eis mit Bernsteinsplittern. Ihr Haar war streng nach hinten gekämmt und hochgesteckt. Sie trug einen engen Rock und eine Strickjacke über der Bluse.
»Sie wollen mit mir über Clara reden«, stellte sie fest, während sie uns in einem japanischen Jeep quer durch die Stadt zum Restaurant ihrer Cousine kutschierte. Ihr Deutsch klang perfekt, mit fast hanseatischer Aussprache.
»Ja. Danke, dass Sie Zeit für uns haben«, sagte ich unterwürfig.
Juliane sagte nichts. Sie sondierte die Lage. Sie war es nicht gewöhnt, unterlegen zu sein. In Lia witterte sie eine Person, die sich nicht so leicht auf den Zahn fühlen ließ.
»Schon recht. Ich habe im Restaurant etwas zu essen für uns bestellt.« Sie sah auf die Uhr, der Jeep machte einen Schlenker und rammte beinahe einen Anhalter am Straßenrand. Der Typ sprang eine Böschung hinunter und schrie uns unflätiges Zeug hinterher.
Zwei Minuten später bogen wir durch ein Tor in einen Innenhof, in dem sich bereits eine Menge Fahrzeuge drängten. Alles schwarz glänzende Limousinen und Jeeps, fein geputzt und poliert. »Achten Sie nicht auf die Angeber«, sagte Lia und ging uns voraus, eine Treppe hinauf.
Ein Tisch stand für uns bereit; in einer Laube, im Schatten von Weinranken. Kühl, ruhig, ein kleines Paradies nach der Fahrt in der überfüllten Marschrutka und den Tbilisser Abgasen, die seit einer Woche unseren Schleimhäuten zusetzten.
Gut die Hälfte der Tische war besetzt. »Am Wochenende wird mehr los sein«, sagte Lia. »Meine Cousine arbeitet bis zum Umfallen und wird doch nicht fertig mit allem. Die letzten drei Tage hatten wir in der ganzen Stadt keinen Strom. Ihr in Tbilissi, ihr könnt euch das gar nicht vorstellen.«
Sie redete, als wären wir die heimlich beneidete und zugleich verachtete Verwandtschaft aus der Hauptstadt.
Wir bekamen Wein, Chatschapuri, Auberginen in Nusssoße, Hühnchen, das ganze Programm. Dazu Chinkali, die mit Hackfleisch gefüllten Riesentortellini.
»Also, Clara«, begann Lia und schenkte uns Wein ein, »Clara bekommt eine Menge Publicity und Aufmerksamkeit und braucht eigentlich nicht noch mehr Leute aus dem Ausland, die um sie herumschwänzeln und ihr Honig ums Maul schmieren.«
»Tatsächlich?«, fragte ich. Diese selbstverliebte Trulla ging mir auf den Wecker.
»Natürlich! Sie muss aufpassen; wer zu oft in der Zeitung steht, der hat sich irgendwann verbraucht.« Sie stieß mit uns an und trank auf die Kunst und die Ehre, ein Künstler zu sein.
»Auch meine Vorfahren waren Deutsche. Ich bin die letzte in meiner Familie, die mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen ist. Meine Kinder verstehen deutsch. Aber sie sprechen es nicht. Sie sehen keinen Grund dazu.«
»War Clara in diesem Frühjahr in Balnuri?«, stellte ich meine nächste Frage.
»Sie brauchen sich vor mir nicht zu verstellen. Wir wissen, dass sie sich abgeseilt hat. Wohin auch immer. Wahrscheinlich wurde ihr der Rummel zu viel. Sie wird irgendwann wieder auftauchen. Schon als Kind bekam sie immer eine Extrawurst gebraten. Spielte sich in den Mittelpunkt und tat anschließend ganz schüchtern. Ein kleines Biest.«
Ich biss in ein Chinkali, schlürfte die Soße raus und ließ Lia reden. Juliane hockte schweigsam da, scannte die Laube und nippte ab und zu
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