Wernievergibt
ersten Gedanken wieder auf, »hörte also, dass der Roki-Tunnel voller Soldaten und Material war. Der Geheimdienst hatte Hinweise, die russische Armee würde bis Zchinwali weitermarschieren. Es gab Berichte von ethnischen Säuberungen. Er war sich nicht sicher: Würden sie einfach immer näher kommen, bis Tbilissi?«
»Das hätte seine Regierung nie überlebt«, bestätigte Juliane.
»Er selbst vielleicht auch nicht. Putin hat mehr als einmal öffentlich gedroht, Saakaschwili würde schon sehen, wohin es ihn führte, wenn er weiter nach Westen strebte.« Giorgi trank seinen Tee aus und biss auf den Rand des Bechers. »Nämlich auf den Friedhof. Dann könnten die moskautreuen Pseudopolitiker in Tbilissi das Heft in die Hand nehmen und einen Satellitenstaat aufbauen, der Georgien erneut zur Interessenssphäre Russlands werden lässt. Keine NATO, keine EU. Schluss.«
Ich hatte das Gefühl, einer Fernsehdiskussion beizuwohnen. Trotz meiner inneren Betäubung war mir klar, was Giorgi uns damit sagte: Wenn ihr, wenn die EU, wenn die NATO sich für Georgien so eingesetzt hätten wie für den Balkan! Dann hätte es diesen Krieg nie gegeben. Der Opa hätte keine Kugel im Kopf und könnte noch sprechen. Mira wäre am Leben. Vielleicht.
»Als 2008 das Kosovo anerkannt wurde, war den Russen klar: Sie müssen sich Südossetien holen, bevor die NATO weiter auf sie zuwächst. Sie betrachten den Westen als wuchernde Schlingpflanze, die frisst, was ihr in den Schlund gerät.«
»Imperialisten eben.« Juliane zuckte die Schultern. »Russland fühlt sich schwach, gedemütigt, seiner Größe und Bedeutung beraubt. Putin und Medwedjew versuchen, Land zu gewinnen. Aus ihrer Sicht ganz verständlich.«
»Wenn Merkel, wenn Sarkozy nur rechtzeitig etwas getan hätten!« Giorgis Gesicht legte sich in Falten. »Wenn sie Georgien nur schneller eine Mitgliedschaft in der NATO in Aussicht gestellt hätten.«
»Denken alle Georgier so?«, fragte ich, um dem Gespräch die Spitzen zu nehmen. Ich konnte nichts für Frau Merkel. Für Sarkozy auch nicht. Ich wusste nicht einmal, ob ich bei den letzten Wahlen zur Urne gegangen war. Juliane durfte davon nichts wissen. Sie würde durchdrehen.
»Ach, manche denken überhaupt nicht.« Giorgi schnaubte. »Manche wollen nur Saakaschwili weghaben, ohne irgendeine Vorstellung, was danach kommen soll. Viele meiner Landsleute sind überhaupt nicht demokratiefähig. Sie denken, da muss einer sein, der alles richtig macht, ohne dass sie sich engagieren. So funktioniert es halt nicht. Unsere Oppositionsallianz ist am Zerfallen. Sie haben sich aufgerafft, vor einem Jahr diese Straßenblockaden zu organisieren und aufrechtzuerhalten, bis sie es in der Sommerhitze einfach nicht mehr durchhielten und die ganzen Proteste in sich zusammenbrachen.«
»Und Mira?«, setzte ich nach.
»Mira fand ziemlich viel über all das heraus. Sie hatte Namen. Namen von Geschäftsleuten, die 2005 das Land verließen, um nicht auf Saakaschwilis schwarzer Liste zu landen. Außerdem hat sie recherchiert, dass die Mafia nicht nur die georgischen Oppositionspolitiker infiltrierte, sondern auch Diplomatenkreise.«
»Was nicht weiter schwierig ist, wenn man die Polizei provoziert und auf diese Weise für Gewaltausbrüche sorgt«, ergänzte Juliane. »Oder Schienen besetzt, damit Züge stehen bleiben, Leute nicht dahinkommen, wo sie hinwollen.«
»Wir hatten damals wirklich Angst, dass sie den Flughafen blockieren würden«, sagte Giorgi. Schuscha schenkte ihm Tee nach. »Die meisten dieser Paten haben sich nach Russland oder Westeuropa abgesetzt. Einige Schlüsselfiguren leben in Österreich. Mira war dran. Sagte mir jedoch nichts Genaues. Nur, dass das österreichische BKA ermittelt. Und dass die Behörden Entscheidendes herausgefunden hätten. Was das war, weiß ich nicht.«
»Haben Sie sie getroffen, als sie in Tbilissi war?«
»Ja, zweimal. In einem Restaurant hier an der Wascha-Pschawela-Avenue. Gegenüber vom Staatsarchiv.« Er zeigte die Straße entlang nach Osten.
»Und? Wie weit war sie mit ihren Recherchen?«, drängte ich. »Konnte sie jemandem gefährlich werden?«
»Sie hatte ein paar Namen auf einem Zettel. Den gab sie mir und sagte: ›Falls ich nicht dazu komme, machst du weiter.‹« Giorgi stand auf, schob Schuscha sanft auf ihren Karton und räusperte sich. Seine Arme schlackerten wie Papierfahnen um seinen dünnen Körper. »Ich kann das nicht. Ich will das auch nicht.«
Die eigenen Grenzen ernst nehmen,
Weitere Kostenlose Bücher