Werwelt 01 - Der Findling
und betrachtete Annes Mutter. Er hatte nicht viel von der Welt gesehen, aber er erkannte, daß Vaire schön war. Es war das einzige, was er denken konnte. Er beobachtete ihre Lippen, wenn sie sprach, ihre Augen, wenn sie still war, jede ihrer Bewegungen, während sie zwischen Eßzimmer und Küche hin und her ging.
Ihr Gesicht war runder als Tante Cats, aber sie besaß das gleiche warme Lächeln. Ihr Körper war schlank, an den Hüften etwas ausladender als die Mode erlaubte. Sie trug schmale Röcke in leuchtenden Farben, und Robert meinte, er hätte nie zuvor etwas so Wunderbares gesehen wie die Biegsamkeit ihrer Taille, wenn sie beispielsweise einen Teller in den Spülstein stellte, oder die anmutige Haltung ihrer Schultern, als sie sich auf ein Knie hinunterließ, um Anne den Milchbart abzuwischen. Ihre Lippen waren voll wie die ihrer Tochter, an den Winkeln leicht nach oben gezogen, und wenn sie lächelte, hatte sie Grübchen. Sie schien Robert glücklicher zu sein als jeder andere Mensch, dem er je begegnet war. Immer summte sie fröhlich vor sich hin, während sie ihrer Mutter im Haus half.
Jedesmal, wenn sie die Arme ausstreckte, um einen Teller zu nehmen oder nach dem Besteck zu greifen, sah er ihre schönen schlanken Finger, die sich bewegten, als spielten sie auf unsichtbaren Saiten, und dabei harmonische Klänge erzeugten, die allen außer dem schmalgesichtigen kleinen Jungen verborgen blieben. Einmal blickte sie auf und begegnete seinem Blick. Ihre großen blauen Augen waren wie gefangen von seiner unverschleierten Bewunderung. Er konnte die Augen nicht abwenden. Er hatte das Gefühl, als würde ihm der Magen ganz eng zusammengezogen, während er sie lange unverwandt ansah, bis sie schließlich ihre Augen zusammenkniff, wie ihr Vater das zu tun pflegte, und lachte.
»Robert, warum siehst du mich so an? Hast du Angst, ich fliege fort?«
Robert konnte ihr nicht erklären, warum er sie ständig beobachtete, aber er wußte, daß er am liebsten niemals aufhören würde, sie anzusehen. Jede goldblonde Welle ihres Haares wollte er sich einprägen, jede Kontur ihres Gesichts, den Schwung ihres Kinns, das Rot ihrer Lippen, jeden Ton ihrer Stimme. Sie kam zu ihm an den Stuhl.
»Walter und Anne und ich holen dich morgen früh zur Kirche ab, Robert. Wußtest du das schon?«
»Nein. Ich bin noch nie in der Kirche gewesen«, antwortete er schwach, während er den Duft ihres Haares und ihrer Haut einsog.
»Haben dich denn deine Mutter oder dein Vater nie mitgenommen? Dort wird einem von Gott erzählt.« Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Ich weiß nicht, was Gott ist«, sagte Robert, der seine Gedanken noch immer nicht sammeln konnte.
Jetzt blickte er auf ihre Brüste, die sich bewegten, während sie atmete, sah zu, wie der Knopf ihrer Bluse am Hals mit jedem Atemzug erst enger wurde und sich dann wieder lockerte. Es war ein warmer Tag, und ein feiner Hauch von Schweiß machte die Haut der Frau leuchten, als strahle sie ein eigenes Licht aus.
Vaire wurde sich plötzlich der Beobachtung des kleinen Jungen bewußt. Sie errötete leicht, fühlte sich erheitert und schuldbewußt zugleich, so als wäre sie dabei ertappt worden, wie sie sich einen zweideutigen Scherz angehört hatte. Sie lachte wieder.
»Komm, Robert, wir wollen doch mal sehen, was Anne und Tante Cat draußen auf den Erdbeerbeeten machen.«
An diesem Abend badeten Tante Cat und Martin und Robert in der Küche. Das Wasser wurde stundenlang in dem großen Kupferkessel auf dem Ofen erhitzt, bis es kochte, und dann hievte Martin ihn vom Herd, mit den dicken Handschuhen, die er bei der Maisernte immer anhatte, weil der Griff so heiß war, und goß einen glitzernden, dampfenden Wasserstrahl in den Waschzuber, der auf dem großen geflochtenen Teppich in der Mitte des Linoleums stand. Das kochende Wasser wurde mit kaltem Wasser aus der Pumpe abgekühlt, und Tante Cat schrubbte Robert vom Kopf bis zu den Zehenspitzen mit einem Stück durchsichtiger Seife, das nach zerdrückten Apfelblüten roch.
»Geht ihr morgen auch zur Kirche, du und Martin?« fragte Robert, als Tante Cat erst den einen und dann den anderen Fuß mit einer kleinen Bürste bearbeitete.
»Nein, Robert. Wir gehen nicht mehr oft zur Kirche. Deine Freundin Vaire und ihr Mann und Anne nehmen dich mit in die baptistische Kirche.«
Robert wußte nicht, was das Wort »Freundin« in Zusammenhang mit Vaire zu sagen hatte, und er spürte, daß der Nachdruck auf dem Wort »baptistisch«
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