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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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Toilettenraum der Mädchen zu verschwinden.

    Es hat längst nichts Befremdliches mehr, daß Charles in mir Emotionen aufrühren kann, von denen er kaum etwas ahnt. In den beiden Nächten zwischen Schulfest und der Fete, die bei den Baileys stattfinden soll, befinde ich mich in einem Zustand quälender Frustration, den ich mit keiner meiner üblichen Aktivitäten überwinden kann. Ich treibe allen möglichen Schabernack, wie das am Vorabend des Allerheiligenfestes allgemein üblich ist, aber selbst das hilft mir nicht. Ich habe in der Dunkelheit Klosetthäuschen umgestoßen, in denen sich Menschen befanden, und ihrem wütenden Geschimpfe zugehört, während sie sich abplagten, da wieder herauszukommen, ich habe Gartentore auf Stalldächer hinauftransportiert, und auf einem Hof habe ich zwei Hofhunde zum Firstbalken des Hauses hinaufgeschleudert, wo sie sich wie zwei verängstigte Nestlinge festkrallten, unfähig, auch nur einen Schritt auf dem steilen Dach zu tun, und sich die Lunge aus dem Leibe jaulten; ein paar Menschen habe ich einen solchen Schrecken eingejagt, daß sie beinahe der Schlag getroffen hätte, ich habe unheimliche Geräusche unter fremden Fenstern gemacht und drei Lämmer, ein Dutzend Enten und Hühner und eine freche Katze gefressen, die mir heute noch schwer im Magen liegt.
    Aber die Nächte werden kälter. Bald wird es zu schneien anfangen, und dann werde ich in meiner Bewegungsfreiheit beschnitten sein, vielleicht bekomme ich sogar Lust auf einen Winterschlaf. Diese quälenden Gefühle der Frustration sind Teil des Wachstumsprozesses und werden schon noch gemeistert werden. Inzwischen muß ich versuchen, Charles’ Leben näherzukommen und mehr an seinen Erlebnissen teilzuhaben. Vielleicht kann ich auf diese Weise das unruhige Blut stillen, das durch meine Adern pulst. Gelassener Stimmung stelle ich nun fest, daß die Macht, andere Geschöpfe zu lenken, sich bis jetzt noch nicht auf Menschen erstreckt, jedenfalls nicht für mich. Eines Nachts schicke ich einem späten Wanderer auf der Landstraße Strahlen der Anziehung entgegen, aber sie scheinen kaum eine Wirkung zu haben. Sie machen ihn nur nervös. Er geht schneller, reagiert aber sonst in keiner Weise. Alle anderen Geschöpfe jedoch sprechen auf diese Macht an, und sie ist mir in dieser Zeit des Mißvergnügens eine willkommene Annehmlichkeit und ein gewisser Trost.
    Anläßlich des Fests bei den Baileys hatte sich Charles eine schwarze Wollhose gekauft, dazu einen Gürtel, ein weißes Hemd und eine fertiggebundene Fliege, die einfach an den Kragen geklemmt wurde. Für ein neues Paar Schuhe reichte sein Geld nicht, deshalb mußte er sich damit begnügen, seine Arbeitsschuhe mit schwarzer Schuhcreme auf Hochglanz zu bringen. Als er sich in seinem Schlafzimmer im goldgerahmten alten Spiegel betrachtete, fand er, er sähe wirklich nicht übel aus. Wenigstens paßte alles. Er hatte nicht daran gedacht, daß es kalt sein könnte und er den ganzen Weg von mehr als einer Meile bis zum Hof der Baileys würde zu Fuß gehen müssen. Außer einer alten Jacke, die ihm Douglas für die Arbeit geschenkt hatte, besaß er nichts, was er über sein weißes Hemd hätte anziehen können. Der Abend war kalt, aber er brachte es nicht über sich, die schmutzige alte braune Jacke, die nach Schweiß und Stallmist roch, über seinen sauberen Sachen zu tragen. Er beschloß deshalb, den Weg im Laufschritt zurückzulegen, und zwar genau im richtigen Tempo, um weder verschwitzt noch durchfroren anzukommen.
    Mrs. Stumway saß wie immer in ihrem Schaukelstuhl im Wohnzimmer und las im Lampenlicht, die Brille mit den kleinen ovalen Gläsern auf der Nase. Sie blickte über den Rand der Brille hinweg auf Charles, als dieser auf dem Weg nach draußen durch das Eßzimmer gelaufen kam.
    »Charles«, sagte sie laut, »wie alt bist du eigentlich?«
    »Zwölf, glaube ich«, antwortete Charles recht verlegen.
    »Dann bist du groß für einen Zwölfjährigen«, stellte sie fest. »Ja, du bist wirklich unglaublich gewachsen seit dem Tag, an dem du hier ankamst.« Sie blickte wieder in ihr Buch. »Diese Kinder heutzutage. So schnell hab’ ich noch nie ein Kind wachsen sehen.« Und ihre Stimme verlor sich in unverständlichem Gemurmel.
    Charles blieb noch einen Moment am Rand des Lichtkreises stehen.
    »Geh nur«, sagte Mrs. Stumway und schüttelte die weißen Locken, die unter der Fliegermütze hervorlugten. »Du schaust gut aus in deinen neuen Sachen.«
    Charles grinste. »Vielen

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