Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
Vom Netzwerk:
geworden.
    Charles berührte wieder die Steinfigur. Und wieder kam das Prickeln, nicht schmerzhaft, doch so, als befände sich der Stein in rascher, unsichtbarer Schwingung, die Fleisch und Knochen wie Schallwellen durchzitterten. Er nahm die Figur in die Hand und hielt sie ganz fest. Sie war kühl, aus grauem, glattem Stein, der weiß gemasert war, und sie sah aus wie ein aufrechtstehender Bär, der laut brummend den Kopf erhoben hatte. Die Tatzen schienen durch ein Band oder einen Gürtel, straff um die ganze Figur gespannt, an seinen Seiten festgehalten zu werden. Insgesamt sah die Figur aus wie jede andere primitive Skulptur, abgeschliffen vom Alter und von vielen Händen, doch als Charles sie ans Licht hielt, sah er auf dem Band rund um die Tatzen eine Linie sehr feiner Zeichen, und ihm wurde immer unbehaglicher. Er war sich im klaren darüber, daß Mrs. Stumway das Prickeln, das er spürte, nicht fühlte, und daß es mit dem Stein mehr auf sich hatte, als sie meinte. Die Zeichen auf den Seiten der Figur glichen einfachen Darstellungen von Wolken, Blitzen, Vögeln und Strichmännchen. Die kunstvoll verschlungenen und geschlossenen Zeichen auf dem Band waren von anderer Art; wie die zierlichen Buchstaben irgendeiner unbekannten Sprache.
    Er stellte den Stein wieder auf den Tisch. Das Prickeln hörte auf. Er nahm ihn wieder zur Hand und drückte ihn ans Ohr, doch er konnte kein Geräusch vernehmen. Kühl und glatt lag er an seiner Wange, und seine Haut prickelte mit einem dünnen Knistern wie damals, als sie auf dem Schulfest mit Trockeneis gespielt hatten. Verwundert und ein wenig ängstlich legte er den Stein wieder nieder. Er machte ihn unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Weshalb hatte er ihn an seine Wange gedrückt? Warum hob er ihn dauernd hoch und legte ihn wieder zurück? Die alte Frau würde das sonderbar finden. Wieder nahm er den Stein, unfähig, es nicht zu tun. Es prickelte.
    Mrs. Stumway stand unter der Küchentür und blickte zu ihm hinüber.
    »Gefällt er dir?« fragte sie, während sie ihr Wasser aus dem alten Marmeladenglas trank. »Ich würd’ ihn dir ja schenken, aber stell dir vor, die arme Catherine kommt auf Besuch und möchte wissen, wo ihr – wie hat sie ihn gleich wieder genannt? –, ach ja, wo ihr ›Zauberstein‹ ist. Irgend so was. Irgend so ein Quatsch. Dann muß ich ihr doch zeigen können, daß ich ihn noch habe.«
    Sie beugte sich zum Tisch hinunter und nahm den Stein.
    Charles beobachtete ihr Gesicht, um festzustellen, ob sie irgend etwas bemerkte. Er war so benommen, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen, und einen Moment lang, während Mrs. Stumway die Steinfigur wieder in ihrem Sekretär verschloß, konnte er überhaupt nicht denken. Nach einer Weile stellte sich das Gefühl ein, daß er in den letzten Minuten zum erstenmal in seinem Leben allein gewesen war, und es dauerte noch eine ganze Zeit, ehe er fähig war, dieses Gefühl in seiner ganzen Tragweite zu begreifen.
    In der letzten Woche vor Weihnachten übertraf Charles sich selbst und bestand einige Prüfungen, die Miss Wrigley der fünften Klasse für das nächste Halbjahr zugedacht hatte. Am letzten Tag behielt sie daher Charles nach der Schule da und sah ihn mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln an. Er stand vor ihrem Pult vorn im Zimmer, das jetzt, wo man die Feuer in den Öfen hatte ausgehen lassen, langsam kalt wurde, und war gespannt zu hören, wie die Prüfung ausgegangen war. Er hatte sich die größte Mühe gegeben, gut abzuschneiden. Jeden Abend in diesen letzten Wochen hatte er über seinen Büchern gesessen, kaum mit den anderen Kindern aus der Schule gespielt.
    Miss Wrigley blickte zu ihm auf. Die Hände hatte sie vor sich gefaltet, wie sie das immer tat, wenn sie den Kindern etwas Angenehmes mitzuteilen hatte. Sie lächelte ihn mit solcher Wärme an, daß Charles plötzlich das Gefühl hatte, der Magen sacke ihm weg.
    »Charles, ich habe ein Weihnachtsgeschenk für dich«, sagte sie.
    »Aber Sie haben mir doch –«
    »Nein, ich spreche nicht von den Geschenken, die ich allen Kindern mache. Ich meine etwas weniger Greifbares, aber Wichtigeres.«
    »Die Prüfung?«
    »Du hast beinahe fehlerlos gearbeitet, Charles. Ich werde dich mit Beginn des nächsten Halbjahrs im Januar in die sechste Klasse einschreiben.«
    »Himmel!« sagte Charles nur. Mehr fiel ihm nicht ein. In einer Klasse mit Paul Holton und Runt Borsold, eine Klasse höher als Doug Bent. Er kam sich vor wie einer, der

Weitere Kostenlose Bücher