Werwelt 01 - Der Findling
überhaupt kein Gedanke daran gekommen, daß er selbst ein sehr mageres Fest erleben würde. Er ließ sich das durch den Kopf gehen, während er draußen auf der Veranda seine Stiefel auszog, dann schüttelte er den Gedanken ab. Es schien einfach nicht wichtig.
Als Charles neben dem Ofen in der Küche stand, wurde er der Anwesenheit einer neuen Person im Haus infolge mehrerer feiner Düfte gewahr, die er als fremd und anders empfand. Natürlich war da der Duft von Parfüm. So ziemlich jede Frau hatte irgendein Wässerchen, das sie auf Haut und Kleider spritzte, um gut zu riechen, und dieses Parfüm war wunderbar zart, nicht das übliche Lavendel- oder Flieder- oder Rosenölzeug, sondern es hatte etwas Wärme, ähnlich dem Duft, der von einem sauberen Pelz aufsteigt. Es hätte der Duft einer sehr exotischen Blume sein können, einer Blume vielleicht, die nur nachts blühte; und über diesem Aroma hing ein beißender Geruch wie von verbranntem Holz. Charles überlegte, was das sein könnte, es war ein ganz neuer Geruch im Haus, ganz anders als der, der dem Ofen entströmte, wenn darin Holz oder Kohle brannten.
»Charles, mein Junge, möchtest du nicht ins Wohnzimmer kommen?« klang Mrs. Stumways Stimme hoch und aufgeregt aus dem Wohnzimmer, das jetzt geöffnet und beheizt war.
Charles fuhr sich mit der Hand durch das Haar, doch es war völlig zerzaust von seiner Wollmütze und stand nach allen Seiten ab. Er zuckte die Achseln und ging ein wenig befangen durch das Eßzimmer, um unter der breiten Tür des Wohnzimmers stehenzubleiben.
»Charles, das ist meine jüngste Tochter, Claire Lanphier«, sagte die alte Frau.
Eine Frau in Dunkelgrün mit einem Pelz um die Schultern stand vom Sofa auf und bot Charles die Hand. Als er sie nahm, bemerkte er, daß sie ein Glas mit einer hellen braunen Flüssigkeit in der anderen Hand hielt, und wußte sofort, daß der Geruch nach verbranntem Holz von ihrem Getränk kam. Er blickte Mrs. Lanphier in die Augen und sah sie zum erstenmal richtig an, als sie ihn anlächelte und sich wieder ins Sofa zurücklehnte. Im Stehen war sie ein wenig größer gewesen als Charles. Das Haar war straff aus ihrem Gesicht gekämmt und hinten im Nacken zu einer weichen Rolle gedreht. Um den Hals trug sie einen weißen Seidenschal, der wie ein Ascot geknotet war und vorn in dem dunkelgrünen Kleid steckte, das, nach dem schweren, fließenden Fall des Stoffes zu urteilen, teuer gewesen sein mußte, dachte Charles. Mrs. Lanphier wirkte irgendwie vertraut, fand er, als er sich im anderen Sessel niederließ und lächelte. Sie hatte einen großen Mund mit einer vollen Unterlippe, der an den Winkeln leicht nach oben gezogen war, so daß ihre Lippen einen sehr hübschen Schwung hatten, obwohl sich an ihrem Hals und rund um die Augen feine Fältchen zeigten. Ihre Nase war lang und gerade und eine Spur zu groß, um hübsch zu sein, doch die großen, blauen, sehr ausdrucksvollen Augen machten das wieder wett. Wenn sie sprach, begleiteten die Augen ihre Worte mit wechselndem Ausdruck. Die Augen einer Schauspielerin, dachte Charles, völlig eingenommen vom Gesicht dieser Frau, während er sich zu erinnern versuchte, wem sie ähnlich sah.
»Du bist also der Lokalheld und das Wunderkind der Gemeinde, Charles«, sagte Mrs. Lanphier, und ihre Augen zwinkerten, um dem Jungen zu zeigen, daß sie das scherzhaft meinte.
»Laß dich nur nicht in Verlegenheit bringen, Charles«, bemerkte Mrs. Stumway. »Sie ist ein schreckliches Lästermaul.«
Charles sah genau, daß die alte Frau entzückt war von ihrer Tochter, und ihm war klar, daß die Tochter nichts tun konnte und vielleicht nie etwas getan hatte, das die Mutter nicht entzücken würde. Er lächelte wieder.
»Mir kam mein Heldentum ganz gelegen. Da konnte ich mir eine Menge Kleider und solches Zeug kaufen. Ich war schon drauf und dran, ins Rettungsgeschäft einzusteigen, aber die guten Leutchen hätten wahrscheinlich nicht regelmäßig für so was bezahlt.«
»Er hat vom Lebensretterverein in Beecher fünfundzwanzig Dollar Preisgeld bekommen«, erklärte Mrs. Stumway. »Er hat einen seiner Freunde aus dem Fluß gerettet«, fuhr sie fort, ohne Überlegung den Zeitungsbericht zitierend.
Charles sah, daß Mrs. Stumways Verstand vor lauter Freude über den Besuch ihrer Tochter ganz benebelt war. Er beobachtete unablässig Mrs. Lanphiers Augen, deren ständig wechselndes Spiel ihn mehr faszinierte als das Gespräch, das es begleitete. Eine Weile ging es um die Schule
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