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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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plötzlich mutterseelenallein auf hohem Bergesgipfel sitzt.
    »Himmel!« sagte er wieder, als Miss Wrigley aufstand, um ihr Pult herumkam und seine beiden Hände in die ihren nahm.
    »Du bist wahrhaftig ein bemerkenswerter Junge, Charles«, sagte sie, während sie ihm in das erhitzte Gesicht blickte, zu dem sie jetzt schon aufschauen mußte. »Ach, Charles, du wirst eines Tages ein ganz großer Gelehrter, ein blitzgescheiter Mensch.«
    Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich.
    Charles legte seine Arme sehr vorsichtig um Miss Wrigley, berührte nur leicht ihre Wolljacke. Er roch den Duft ihres Haares und hätte am liebsten Freudensprünge gemacht vor Glück, als sie von ihm wegtrat und ihn bei den Schultern nahm.
    »Ich bin so stolz auf dich, Charles«, sagte sie, und ihre Augen sahen aus, als wollte sie zu weinen anfangen. »In so einer Schule zu unterrichten, weißt du –« begann sie, doch dann brach sie ab, schluckte und ging wieder hinter ihr Pult.
    Als sie sich umdrehte, war sie wieder seine Lehrerin geworden, und er begriff erstaunt, daß ihre Gefühle gar nicht so unterschiedlicher Natur waren, obwohl er Miss Wrigley an Wissen und Erfahrung weit unterlegen war. Er spürte, daß er in diesem Moment einen Sprung ins Erwachsensein getan hatte, der beinahe seinem raschen körperlichen Wachstum in den letzten Monaten gleichkam.
    Dann sagte sie ihm auf Wiedersehen. Sie wollte die Weihnachtsferien bei ihrer Familie in Joliet verbringen und würde erst am vierten Januar zurückkommen, wenn die Schule wieder begann. Im Zwielicht ging Charles aus dem Schulhaus hinaus und stieg die Stufen hinunter. Die Kälte traf beinah schmerzhaft seine Zähne, und er merkte, daß er immer noch lächelte. Mit langen Schritten rannte er durch die Schneewehen am Rand der Landstraße, auf dem Weg zu Douglas Bent, um ihm die Neuigkeiten zu berichten.
    Die aufregenden Ferientage vor Weihnachten flogen in einem Ringelreihen fröhlicher Spiele vorüber. Da wurde Schlitten gefahren, Schlittenrennen wurden veranstaltet, die Kinder durften mit den Männern auf Kaninchenjagd gehen, fällten auf dem Peaussier-Hof Christbäume für praktisch jeden in der Gemeinde, ritten auf Bents Pferden aus, wenn sie die Erlaubnis dazu bekamen, sprangen von der Brücke der Landstraße in die Schneewehen auf dem Grund des Bachs. Der zaghafte Kenny Grattan wollte zeigen, daß er nicht feige war, hielt sich an der hinteren Stoßstange eines Milchwagens fest und sauste auf seinem Schlitten dahin, bis er in der Nähe der großen Kurve plötzlich auf ein Stück blanken Asphalts stieß und kopfüber von seinem Schlitten stürzte. Rudy Bent brach auf dem gefrorenen Fluß ein und mußte mit einer Leiter gerettet werden und schwebte ein paar Tage lang in Gefahr, eine Lungenentzündung zu bekommen, hieß es, doch er überstand es. Und Charles fand zwei Weihnachtsgeschenke im Briefkasten der alten Witwe Stumway; ein Klappmesser von einer unbekannten Verehrerin – Douglas behauptete, es sei Brenda Gustafson – und ein Taschentuch von Flossie Portola, in das sie seine Initialen eingestickt hatte.
    Auch er selbst arbeitete eifrig, um seine Geschenke rechtzeitig fertig zu bekommen – eine geschnitzte Holzpistole, das genaue Abbild einer fünfundvierziger Militärautomatik, für Douglas; einen handgeschnitzten Schmetterling aus Walnußholz mit einer Holznadel, die durch die beiden ausgebohrten Löcher gesteckt werden mußte, damit das Kunstwerk auch seinen Zweck als Haarspange nicht verfehlte. Dieses Geschenk war für Betty Bailey, die es aber erst nach Weihnachten bekommen würde, da sie mit ihren Eltern zu Verwandten nach Chicago gefahren war. Ein handgeschriebener Kalender für neunzehnhundertsechsunddreißig, auf dem alle Feiertage mit roten Mustern und Bildern gekennzeichnet waren, war für Mrs. Stumway gedacht, da sie gesagt hatte, sie vergäße dauernd, in welcher Woche man sich befände. Miss Wrigley hatte er ihr Geschenk schon gegeben, eine sehr schöne vergoldete Brosche, in die ein Stück versteinertes Holz eingefaßt war. Es war das einzige Geschenk, das er gekauft hatte, für mehr reichte sein Geld nicht, und sie hatte es mit großer Freude entgegengenommen.
    Am Tag vor Weihnachten dann traf Claire Stumway Lanphier ein, bog von der Landstraße in die kurze Auffahrt ein, die Charles freigeschippt hatte, und ließ den Motor ihres neuen cremefarbenen Auburn Kabrioletts noch einmal aufheulen, ehe sie ihn abstellte. Douglas Bent entdeckte den Wagen, als

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