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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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ich in diesem Herbst angefangen, und jetzt schlage ich mich mit dem Unterschied zwischen Legislative und Judikative herum.«
    »Wie bemerkenswert«, sagte Mrs. Boldhuis und blickte Charles über den Rand ihres Likörglases hinweg direkt in die Augen. »Wie alt bist du denn, Charles?«
    »Dreizehn, glaub ich«, antwortete Charles, voller Unbehagen über soviel Aufmerksamkeit, die da auf einen, wie er meinte, zu groß geratenen und übermäßig täppischen Burschen verschwendet wurde.
    »Und nicht nur das«, bemerkte Miss Wrigley und stand auf, wobei sie mit ihren Händen glättend über ihren grauen Wollrock strich; »es ist kaum zu glauben, wie Charles seit Schulbeginn gewachsen ist.« Sie trat zu Charles’ Sessel und nahm den Jungen bei der Hand. »Steh doch mal auf, Charles. Ich möchte zeigen, wie sehr du gewachsen bist.«
    Charles stand auf, kam sich ungelenk und tolpatschig vor und neigte sich vornüber, und Miss Wrigley drückte ihm fest die Hand ins Kreuz und zwang ihn, gerade zu stehen.
    »Schaut euch das an«, sagte sie, wobei sie Charles wie eine Topfpflanze auf den Boden stellte und dann hinter ihn trat, so daß sie nun Rücken an Rücken standen. »Er ist beinahe so groß wie ich, und als er im Herbst zu uns kam, da konnte ich noch über seinen Kopf hinwegsehen, das weiß ich ganz genau.«
    Mr. Boldhuis stand auf, um die beiden zu mustern, und murmelte, wenn Jessie ihre Schuhe mit den hohen Hacken auszöge, dann wäre Charles vielleicht sogar eine kleine Spur größer als sie. Miss Wrigley schlüpfte aus ihren Schuhen und blieb auf Strümpfen hinter Charles stehen.
    »Ja«, stellte Mr. Boldhuis fest, während er eine weiche Hand auf den Kopf der Frau legte und mit den Fingern gegen den Kopf des Jungen stieß. »Charles ist vielleicht einen Fingerbreit größer. Ist das nicht bemerkenswert.«
    Miss Wrigley drehte sich um und schwang Charles mit der Hand herum, als wäre er ein Ausstellungsstück in einem Museum. Charles kam sich vor wie ein Preisbulle. Der Größenvergleich, bei dem Miss Wrigley ungeniert mit ihrem Gesäß gegen das seine gestupst hatte, hatte ihn recht hübsch erhitzt. Er stellte mit einiger Überraschung fest, daß er nicht nur Miss Wrigleys großes Wissen und freundliche Art attraktiv fand. Charles schluckte und sah seine Lehrerin ernsthaft an, während er alle anderen Gedanken aus seinem Hirn verbannte und sich fragte, ob er womöglich auf dem Weg war, ein Lustmolch zu werden.
    »Charles«, sagte Miss Wrigley, während sie dem Jungen in die ernsthaften Augen blickte, »wie ist es nur möglich, daß du so schnell gewachsen bist?«
    »Das weiß ich auch nicht, Madame«, antwortete Charles, »aber es ist schon eine Wucht.«
    »Fast zehn Zentimeter in drei Monaten?« fragte Mr. Boldhuis lachend. »Ha, wenn das so weitergeht, können wir uns an langweiligen Tagen einfach hinsetzen und zusehen, wie Charles wächst.«
    Daraufhin lachten alle, und das Gespräch wandte sich wieder anderen Dingen zu, unter anderem der Frage, wann Miss Wrigley vorhätte, wieder nach Champaign zu gehen, um den Magister zu machen. Charles fand es so schwierig dem Gespräch zu folgen, daß er mehrmals völlig den Faden verlor und sich schließlich damit begnügte, die Bücherregale neben seinen Sesseln zu inspizieren.
    Mit vielen der Titel hatte Charles seine Schwierigkeiten, und ihm wurde klar, daß all diese Autoren, deren Namen auf den Buchrücken standen, berühmt und den drei Erwachsenen wohlbekannt sein mußten, die das College besucht hatten, sich jetzt in einer geistigen Sphäre bewegten und nicht erdgebunden auf dem harten Boden der Tatsachen standen wie die Bauern, unter denen Charles lebte. Manche der Titel waren offenbar in fremden Sprachen, denn selbst wenn er versuchte, sie auszusprechen, konnte er sich auf die Worte keinen Reim machen. Zwei Bücher waren da, die wohl lustig sein mußten, weil in ihren Titeln das Wort Komödie vorkam; doch als er sie aufschlug, sah er sogleich, daß sie in Sprachen geschrieben waren, die er nicht verstand. Das eine hieß Divina Commedia und war von einem gewissen Dante noch etwas, das andere hieß La Comedie Humaine von einem so und so Balzac, und beide waren in verschiedenen Sprachen geschrieben. Charles blieb der Mund offen vor Ehrfurcht, als er sich klarmachte, was für ein Wissen dazugehörte, drei verschiedene Sprachen zu sprechen, wie das diese Leute hier offenbar taten. Dabei hatte er, wie es ihm schien, schon Mühe genug, wenigstens eine einzige zu meistern.

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