Werwelt 01 - Der Findling
und um die letzten Neuigkeiten aus der Gegend, und Charles brachte sogar etwas Enthusiasmus für das Gespräch auf. Er folgte oberflächlich der Unterhaltung, während er die interessante neue Person studierte, die da in sein Leben getreten war. Mrs. Lanphier nippte von dem Glas in ihrer Hand, bis es fast leer war, und dann klappte sie ein flaches Zigarettenetui auf und entnahm ihm eine lange, dünne Zigarette.
»Stört es dich, Mutter? Charles?«
»Ich mag es nicht, aber heutzutage raucht ja jeder, sogar die Frauen«, erwiderte Mrs. Stumway, doch im Grunde störte es sie gar nicht, das merkte Charles ganz deutlich.
»Charles, würdest du einer Dame, die in der Wildnis des Getreidegürtels gefangensitzt, einen frischen Scotch mit Wasser besorgen?«
Mrs. Lanphier hielt mit bekümmerter Miene ihr beinahe leeres Glas hoch.
»Aber gern«, versicherte Charles und sprang eifrig aus seinem Sessel. »Ah – aber ich weiß nicht, wie man das machen muß.«
Er lachte, hielt das Glas in der Hand, als wäre es ein rätselhaftes Ding.
»Zwei Finger Scotch«, sagte Mrs. Lanphier und kniff ein Auge zu, während sie die Worte mit zwei Fingern illustrierte, »und genausoviel Wasser und ein bißchen Eis dazu.« Flüchtig huschte ein Ausdruck der Enttäuschung über ihr Gesicht. »Ach, ihr habt ja kein Eis, und das ausgerechnet hier, wo rundherum tiefster Winter ist.«
»Ich hole Ihnen schon welches«, sagte Charles.
Er lief aus dem Zimmer, stellte das Glas auf den Spültisch und stürzte durch die Hintertür hinaus. Mit langem Arm griff er nach oben und brach einen langen Eiszapfen vom Dach der Veranda ab. Er sah durch ihn hindurch, um sich zu vergewissern, daß er sauber war, doch um diese Jahreszeit war er eigentlich dessen sicher, da das Dach nun seit Wochen von Eis und Schnee überzogen war. Wieder am Spültisch, korkte er die Flasche mit der hellbraunen Flüssigkeit auf, goß zwei Fingerbreit ein und hätte beinahe die Flasche fallen lassen, als ihm der starke Duft des Whiskys in die Nase stieg. Er gab Wasser ins Glas und rührte mit dem Eiszapfen um, brach dann ein Stück ab, das über den Rand des Glases hinausragte, nahm ihn heraus und zerbrach ihn noch einmal. Ein paar Tropfen des Getränks blieben an seinen Fingern haften. Er leckte sie auf und schauderte. Wie konnte man dieses Zeug nur trinken? Mit dem Glas in der Hand eilte er ins Wohnzimmer zurück.
»Charles, du bist ein Schatz«, erklärte Mrs. Lanphier, als sie das Glas entgegennahm und bewundernd den Eiszapfen betrachtete. Sie sagte »Schatz« als wäre es mit zwei großen As in der Mitte geschrieben. Charles wurde ganz warm dabei. »Möchtest du für die Dauer meines Besuches mein offizieller Scotch- und Wasser- und Eiszapfenlieferant sein? Sag ja!«
»Mit Vergnügen, Madame.«
Charles kam sich vor, als wäre er eben zum Ritter geschlagen worden. Er ließ sie nicht aus den Augen, als sie den ersten Schluck nahm, wartete gespannt auf einen Blick des Lobs. Über den Rand des Glases hinweg sah sie zu ihm auf, und ihre Augen zwinkerten wieder, während sein Herz zwei überhastete Schläge tat.
»Ritterlichkeit an den unwahrscheinlichsten Orten«, murmelte sie. Sie zog zierlich an ihrer Zigarette und klopfte die Asche am Rand der Untertasse ab, die als Aschenbecher diente. »Willst du nicht auch einen Schluck trinken, Mutter?« fragte sie. »Heute ist doch Heiligabend, und wir sind schließlich zum erstenmal seit wie vielen Jahren wieder beieinander?«
»Ach, Claire, das weiß ich gar nicht mehr. Es sind bestimmt fünf oder sechs Jahre. Das Zeug da trinke ich nicht gern, aber ich nehme mir einen Schluck von dem Wein, den du geschickt hast.«
»Du hast den Wein immer noch?« Claire lachte und lehnte sich im Sofa zurück. »Ach, Mutter, das war doch das Geschenk vom letzten Jahr.«
»Ich weiß, ich weiß, aber ich trinke eben nur ganz selten. Charles, würdest du in den Keller hinuntergehen und die Flasche holen, sie hat unten am Boden so eine Einbuchtung. Sie liegt gleich auf der Konsole rechts von der Treppe. Aber sei vorsichtig, daß du sie nicht fallen läßt.«
»Ja, bitte«, sagte Claire mit sehr leiser Stimme, die ihre Mutter bestimmt nicht hörte, dachte Charles.
Und so wurde es ein sehr vergnüglicher Abend, obwohl Charles seit Mittag nichts mehr gegessen hatte. Er trank mit der alten Frau zusammen ein Glas Wein, und dann machte er Claire noch einen Scotch. Im Haus war es inzwischen dunkel geworden, und Mrs. Stumway zündete die Lampen an und
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