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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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strich mit einer grauen Paste aus einer Dose, die Claire mitgebracht hatte, ein paar kleine Brötchen. Der Wein war von einem prachtvollen tiefen Rot und hatte eine weiche, sämige Herbheit. Jedesmal, wenn Charles trank, meinte er, den Wein an mehreren Stellen zugleich schmecken zu können, nicht nur mit dem Gaumen. Die Brötchen waren scharf gewürzt und schmeckten nach Leber, doch sie waren köstlich zum Wein. Sie saßen im dämmrig erleuchteten Wohnzimmer und unterhielten sich still über vergangene Weihnachtsfeste, während sie auf den kleinen Baum, den Charles von den Peaussiers dafür bekommen hatte, daß er so fleißig beim Fällen geholfen hatte, und auf die Geschenke unter dem Baum blickten, die einen ganz achtbaren Stapel abgaben, nachdem Claire ein halbes Dutzend Päckchen dazugelegt hatte, die sie mitgebracht hatte.
    »Ja, Charles«, sagte sie, »für dich sind auch welche dabei«, als er verwundert auf die Päckchen blickte.
    Es wurde später, und als Charles hinausging, um Claire noch einen Scotch zu machen, sah er, daß es wieder zu schneien angefangen hatte. Er hatte zwei Gläser Wein getrunken und überlegte, ob er sich noch eines einschenken sollte. Die alte Frau war, wie das manchmal vorkam, in ihrem Schaukelstuhl eingeschlafen, so daß er und Claire allein waren. Er goß sich noch einen Schluck ein und fühlte sich dabei sehr männlich und sehr groß. Im warmen Wohnzimmer stießen Claire und Charles auf Weihnachten an und sangen sehr leise »Stille Nacht«, das Charles schon in der Schule gelernt hatte. Als sie geendet hatten, war es sehr still. Sie konnten das Knistern des Feuers hören, das im Ofen vor sich hin murmelte.
    Ich spüre die Wirkung des Weins, während Charles von einem wohligen Gefühl der Schläfrigkeit umfangen wird, aber dieser Tage bin ich in einem Wartezustand, denn immer, wenn er das Haus verläßt, nimmt er den machtvollen Stein mit. Er steckt auch jetzt in seiner Jackentasche, und wenn er im Haus ist, fällt es mir schwer, ans Bewußtsein emporzusteigen, so als befände ich mich im Winterschlaf. Die Stimmen, die ich vernehme, und die gedämpften Gefühle, die zu mir durchdringen, verlieren sich in einem Traum, weich, schwebend, unwichtig. Ich spüre, daß jetzt schon etwas Gewaltiges geschehen müßte, mich zu wecken. Es ist nicht wichtig. Ich schlafe wieder.
    Gemeinsam halfen sie der alten Frau hinauf in ihr modrig riechendes Schlafzimmer, und Charles torkelte in sein Zimmer hinüber, während Claire ihrer Mutter half. Ein leises »Gute Nacht«, ein geflüstertes »Fröhliche Weihnachten«, und dann kroch er in sein Bett, und nicht einmal die Kälte machte ihm etwas aus. Er bewunderte sogar die Nebelwölkchen seines eigenen Atems im Kerzenlicht, ehe er die Kerze auslöschte und beinahe im selben Moment in einen tiefen Schlaf fiel.
    Es war ein herrliches Weihnachtsfest, dachte Charles, und mit einer Anwandlung von Befremden fiel ihm ein, daß es auch sein erstes Weihnachten war. Die Geschenke, die er bekam, waren unerwartet und trafen genau seine Wünsche – so, wie es eigentlich immer sein sollte. Und obwohl er Claire kein Geschenk hatte besorgen können, war sie doch so lieb und wußte so genau, was er sich wünschte. Der weiche dunkelblaue Wollpullover im Zopfmuster war das Luxuriöseste, was er je gesehen hatte, und er paßte genau. Ihrer Mutter hatte sie ein halbes Dutzend wunderschöner langer Kerzen mitgebracht, die in einen Kristalleuchter gehörten, den sie aus einer weichen Filztasche zog wie ein Zauberer, der einen glänzenden Paradiesvogel aus dem Ärmel schüttelt. Nun stand er auf dem Eßtisch des alten Hauses und schimmerte wie ein riesiger, unregelmäßig geschliffener Diamant, dessen Facetten in allen Regenbogenfarben funkelten. Bei seinem Anblick überkam Charles eine große Sehnsucht, die großen Städte und die fernen Länder zu sehen, die Mrs. Lanphier kannte. Sie hatte eine Menge kleiner Fläschchen mit, wie sie sagte, Magenbitter mitgebracht, den ihre Mutter an kalten Winterabenden trinken sollte, und einen langen Schal in zarten Grün- und Goldtönen, von dem sie erklärte, er wäre aus Kaschmirwolle. Ein Gürtel aus geprägtem Leder für Charles kam zum Vorschein und ein Elfenbeinkamm für Mrs. Stumway. Es war wirklich so, als ob die wunderbare Flut an Geschenken nie versiegen würde. Im letzten Päckchen, das Charles öffnete, fand er eine Taschenlampe mit Batterien und eine Klemme, mit der er sich die Lampe an den Gürtel hängen konnte. Es war

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