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Werwelt 02 - Der Gefangene

Werwelt 02 - Der Gefangene

Titel: Werwelt 02 - Der Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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nach Vaire. Es ist ein höchst unbehaglicher Zustand, denn ich kann meine Aufmerksamkeit nicht nach so vielen Seiten hin verteilen, und jeden Augenblick kann etwas Mißliches passieren. Ich setze meine ganze Kraft ein, um an meiner Gestalt festzuhalten. Der vor Liebe halb wahnsinnige Barry würde sich hier, vor aller Augen verwandeln. Er droht mir mit Folter, doch unter Einsatz meiner ganzen Willenskraft gelingt es mir, ihn zurückzudrängen. Die Situation ist entschieden ungut. Ich spüre Barrys Bemühungen, Renee zu erreichen, und ehe ich Widerstände aufbauen kann, hat er sie und das kleine Mädchen auf die andere Seite der Absperrung gezogen, so daß sie jetzt dicht vor dem Käfig stehen, vielleicht zwei Schritte von mir entfernt. Ich merke, wie schwer es mir fällt, Barry zu widerstehen, der mich zwingen will, ihr mein Gesicht zuzuwenden. Ihre Augen sind ein wenig glasig von dem Gewaltakt, den sie soeben über sich ergehen lassen mußte, und das kleine Mädchen springt auf und nieder, während es mehrmals sagt: »Heb mich hoch, Mami, ich kann nichts sehen.«
    »He, Sie da!« ruft jemand von der anderen Seite des Hofs. Der junge Mann läuft mit raschen Schritten auf uns zu. »Das Tier ist gefährlich. Treten Sie jetzt vom Käfig zurück.«
    Sie scheint durch meine Augen hindurch direkt in die von Barry zu blicken. Ich habe das Gefühl, nur ein Vermittler zwischen diesen beiden Menschen zu sein. Es ist, als wäre ich plötzlich nicht mehr als ein durchsichtiger Gazevorhang, der, als die Rampenlichter aufflammen, das Bühnenbild, das sich hinter ihm befindet, nicht länger verhüllt. Ein Strahlen geht über ihr Gesicht, als sie hinter meinen Augen etwas entdeckt, und Barry ihr stumm ihren Namen zuruft: »Renee!«
    »Hören Sie, Madam«, sagt der junge Mann und legt Renee seine schmutzverkrusteten Hände auf die Schultern. »Sie und die Kleine müssen jetzt zurück. Wir können’s nicht riskieren, daß jemand verletzt wird. Sie wissen doch, daß der Bär meinen Onkel umgebracht hat.«
    Er führt sie zur Absperrung zurück, hebt das Seil an, so daß sie darunter hindurchschlüpfen können. Barry beobachtet alles durch meine Augen, so daß ich beinahe das Gefühl habe, als hätte ich mich verwandelt, ein stummes Werkzeug seines Willens. Für den Augenblick ist mir das recht, und ich bin überzeugt, daß nichts Bedrohliches geschehen kann, solange ich an meiner eigenen Gestalt festhalte. Renee, Mina und Vaire gehen am Seil entlang langsam um den Stall herum zum Parkplatz auf der Weide. Ich höre noch ein paar Worte, ehe sie sich meinem Wahrnehmungsbereich entziehen. »Ich glaube dir jetzt.«
    »Es ist einfach zu phantastisch. Ich hab’ das Gefühl, ich werd’ jeden Moment verrückt.«
    »Mami, ich möchte auch gern so eine große Miezekatze.« »Ich muß dauernd an jemanden denken, den ich kenne oder kannte.«
    »Du meinst den Mann, von dem du mir erzählt hast?« »Mami! Ich möchte auch eine große Katze.« Und jetzt sind sie außer Reichweite, hinter dem Stall verschwunden. Ich lege mich wieder im glühendheißen Käfig nieder und lasse das Gemurmel der Menge über mich hinwegschwemmen. Meine Augen sind schmale Schlitze, noch immer auf das Ende des Stallgebäudes gerichtet, wo die beiden schlanken, schönen Frauen und das Kind verschwunden sind. Wie ein Jäger, der sein Gewehr in Anschlag gebracht hat, visiere ich die Stelle an. Die Spitze des Korns ragt in den Kreis meines reduzierten Blickfelds hinein, während mein ganzes Sein auf den Weg gerichtet ist, den sie genommen haben. Und welch seltsame Vision spiegelt sich in diesem Schacht – ein Verlangen, angenommen zu werden, Bestätigung zu finden, ein heftiges, halb verrücktes Begehren, zur Familie zu gehören. Ich schließe meine Augen.
    Erst einige Stunden später, in der sich abkühlenden Luft des Abends, wird mir klar, daß die Spitze des Korns echt war. Es ist das Ende der eisernen Brechstange, die der junge Mann in der Hand trug, als er Renee und das Kind wieder hinter die Absperrung trieb. Er hat sie an das Heck des Lastwagens gelehnt und vergessen. Und ich glaube, daß ich sie von meinem Käfig aus erreichen kann.
    Barry ist kaum noch zu bändigen, und vielleicht ist es das beste, von hier zu verschwinden. Ich bin inzwischen soweit gesundet, daß ich mit beträchtlicher Geschwindigkeit laufen kann, und das ist das wichtigste. Wir müssen warten, bis die ganze Familie schläft. Immer wieder nehme ich die Alte oben am Fenster wahr und frage mich, ob sie

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