Werwelt 02 - Der Gefangene
kracht der nächste Schuß. Warum kommt denn niemand, um Gottes willen?
Begleitet wird diese ganze entsetzliche Szene, meine eigene Angst, von der Stimme der Alten am Fenster oben. »Schießen Sie’s tot! Schießen Sie’s tot!« kreischt sie im schrillen Singsang, während die mordgierige Frau, die im hellen Mondlicht steht, schon wieder ihre Büchse lädt. Mit meinem Willen versetze ich ihr einen heftigen Stoß, und sie läßt eine Patrone fallen, gerät ins Taumeln, als hätte ein starker Wind sie gepackt. Ein wenig kann ich sie immerhin beeinflussen. Ich warte, bis sie erneut zu laden versucht, versetze ihr wieder einen Schlag. Sie schwankt. Doch dann bückt sie sich hastig, hebt die Patrone auf und lädt, ehe ich meine Konzentration sammeln kann. Hinter mir höre ich, wie die Haustür aufgestoßen und zugeschlagen wird. Gott sei Dank, jetzt kommt jemand heraus. Die Frau läßt sich auf einem Knie nieder, stützt ihre Büchse ab, um zwei genau gezielte Schüsse abzugeben. Ich schleudere ihr meine ganze Willenskraft entgegen, sehe wie der Doppellauf der Büchse schwankt, aber es reicht nicht. Das Krachen des Schusses ist laut. Ich habe mich am Ende des Käfigs niedergeworfen in der Hoffnung, daß die Waffe nicht gerade in diese Richtung schwenken wird. Die Eisenstangen klirren und singen unter dem Aufprall der Kugel. Ich bin nicht getroffen. Ich drehe mich um, der Büchse entgegen, um mich zu konzentrieren, aber es ist zu spät.
Ich drücke die Augen zu, als der Schuß sich löst. Wieder bin ich unverletzt geblieben. Vorsichtig öffne ich die Augen, während ich mich frage, was geschehen ist. Der junge Mann hat sich auf die Frau mit der Büchse gestürzt. Sie wälzen sich beide auf dem Boden. Jetzt hat er ihr die Waffe entrissen, hat sie weggeschleudert, versucht, die Frau festzuhalten. Wieder öffnet sich die Haustür und schlägt krachend zu. Der dicke Junge, der Sohn des Toten, kommt heraus.
»He, Orv, hol mal einen Strick, damit wir diese Verrückte hier fesseln können«, brüllt der junge Mann, während er mit der hochgewachsenen Frau ringt, die allem Anschein nach beinahe so kräftig ist wie er selbst.
Der dicke Junge rennt zum Stall. Ich höre das wütende Gekeife der Alten am Fenster, die ihrem Enkel zuruft, er solle die Frau ruhig machen lassen. Die Frau gibt dem jungen Mann von hinten einen Tritt ins Bein und stößt ihn zu Boden. In dem Versuch, seinen Sturz abzufangen, muß er sie loslassen, und sie stürzt wieder zu der Flinte. Der junge Mann springt auf und will ihr nach. Sie schwingt die Waffe wie einen Schlagballschläger, und der Lauf dröhnt dumpf, als er den Kopf des Mannes trifft. Betäubt geht er zu Boden.
Ich höre den dicken Jungen rufend zurückkommen. Die Alte oben am Fenster schreit jetzt schrill nach irgend jemand anderem. Die hochgewachsene Frau, die ihren Hut verloren hat, steht einen Moment lang unsicher im Mondlicht, dann läuft sie, die Büchse in den Armen, in die schwarzen Schatten hinein. Sekunden später höre ich das Auto in der Einfahrt aufheulen und davonbrausen.
Ein anderer Mann, der eben erst herausgekommen ist, und der dicke Junge helfen dem Neffen auf. Es ist vorbei, vorläufig jedenfalls. Ich hocke mich in meinem Käfig nieder und untersuche vorsichtig meine Verletzungen. Die zwei Treffer im Rücken sind eine Kleinigkeit, nicht schlimmer als zwei Bienenstiche; doch die Kugel am Knöchel drückt auf den Knochen, und das schmerzt. Sonst scheine ich unverletzt zu sein. Das, was mich an diesem Vorfall am meisten beängstigt hat, ist die Tatsache, daß ich unfähig war, auf den Willen der Frau Einfluß zu nehmen. Es war, als befände sie sich im Schutz eines Schildes, das zu durchdringen mein Wille nicht fähig war.
Ich richte mich im Käfig auf, um zu zeigen, daß ich nicht verletzt bin. Ich möchte nicht, daß sie einen Tierarzt holen und versuchen, mich zum Zwecke einer Untersuchung zu betäuben. Der junge Mann ist sehr wütend und hält eine Hand seitlich an seinen Kopf gedrückt. Der ältere Mann ist mein ehemaliger Wächter.
»Na, ein Glück, daß sie so schlecht geschossen hat«, sagt der ältere Mann, während der jüngere vom Lastwagen herunterklettert.
»Ja, aber den Lastwagen hätt’ sie uns trotzdem fast kaputt gemacht«, versetzt der andere, während er mit den Fingern auf eine Anzahl von Löchern in der Tür und der Kühlerhaube tippt. Ich höre, daß außerdem aus einem der Reifen Luft entweicht. »Also, ich möcht’ wirklich wissen, was zum Teufel
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