Werwelt 02 - Der Gefangene
ihrer Mutter aus irgendeinem Grund nicht gelingt. Sie sind ohne ihre Männer da. Aus meiner kauernden Ruhelage blicke ich zu ihnen auf, hebe den Kopf, so daß sie mir direkt ins Gesicht schauen können. Mir entgeht nicht, daß sie beide zurückweichen. Das Murmeln der Menge wird lauter, als ich mein Gehör schärfer einstelle, um aufnehmen zu können, was die Schwestern miteinander reden.
Renee spricht. Das ist die Stimme, die Barry so liebt, die leise, sanfte Stimme, die er jetzt hört und eine quellende Sehnsucht in ihm weckt.
»Dieses Gesicht«, sagt sie. »Es sieht nicht wie das von einem Bären aus, eher wie …«
Auch das kleine Mädchen mustert mich. »Das Tier schaut aus wie eine große, gescheite Miezekatze.«
Die beiden Frauen werfen dem kleinen Mädchen einen überraschten Blick zu, dann sprechen sie mit gesenkten Stimmen miteinander.
»Das ist das Tier«, erklärt Vaire, eine Hand auf die Wange gepreßt. »Das ist das Wesen, das an dem Tag im Haus war, als Vater erschossen wurde. Aber es ist jetzt größer geworden.«
»Du meinst, es ist dasselbe«, fragt Renee. Über ihrer Nase stehen zwei steile Falten. »Es sieht seltsam aus. Ja, wie eine große gescheite Miezekatze, Mina.« Sie legt ihren Arm um das kleine Mädchen und drückt es an sich. »Als verstünde es, was wir hier sprechen.«
»Mutter meint, es wäre ein teuflischer Geist«, fährt Vaire fort. »Aber an dem Tag war es direkt neben mir, und es hat nur die Männer verwundet, die uns bedrohten. Und es ist soviel größer, als ich es in Erinnerung habe.«
»He, weitergehen da vorn.« Die Leute wollen jetzt hinauf auf den Wagen, wo das Tier erwacht ist. »Na los schon, Sie sind doch nicht allein hier.«
Die Frauen gehen weiter, ihre Gesichter immer noch mir zugewandt. Dann drehen sie sich weg und hasten, das kleine Mädchen hinter sich herziehend, die Stufen hinunter vom Wagen. Trotz des wachsenden Lärmens der Menge beim Anblick meines Gesichts, kann ich die beiden mit meinem Gehörsinn noch immer erreichen, als sie hinter dem Wagen stehen. Ich stecke meinen Kopf wieder unter meine Vorderläufe.
Barry leidet Höllenqualen in meinem Inneren. Er drängt und stößt, will heraus, um Renee sehen und hören zu können. Er zwingt mich, meine Willenskraft über die beiden Frauen zu werfen und ihnen einen sachten Anstoß zu geben, daß sie hinter dem Wagen hervorkommen, so daß er sie sehen kann. Noch immer unterhalten sie sich mit leisen Stimmen, während sie sich in Bewegung setzen. Am Ende des Heuwagens, neben dem Seil, das den Zuschauern verbietet, weiter vorzudringen, tauchen sie wieder auf.
»Es hat ja auch wirklich den Kopf gehoben und uns angesehen«, sagt Renee gerade.
»Ich weiß, daß es versteht«, erklärt Vaire, die Hand auf dem Seil. »Renee, ich weiß, daß es kein Bär ist. Ich halte es für möglich, daß Mutter recht hat, wenn sie behauptet, daß es sich verwandeln kann.«
»Vaire!« ruft Renee mit aufgerissenen Augen. Sie streckt beide Arme nach ihrer Schwester aus und nimmt ihre Hände. »Glaubst du, daß es wirklich ein böser Geist ist?«
»Vielleicht ist es einfach etwas, worüber wir nicht viel wissen«, erwidert Vaire eigensinnig. »Jedesmal, wenn ich von diesem Wesen anfange, hab ich einen Riesenkrach mit Walter, aber ich –« Sie legt ihrer Schwester die Hände auf die Arme – »habe dieses Wesen zweimal gesehen, vielleicht sogar dreimal.« Eindringlich blickt sie ihrer Schwester ins Gesicht. »Und jedesmal war es genau dort, wo vorher unser kleiner Robert gewesen war.«
Renee ist wie vor den Kopf geschlagen. Sie glaubt ihrer älteren Schwester, kann es aber dennoch nicht akzeptieren, daß es etwas Derartiges gibt. So wie wir bei einem schlimmen Unfall aus der Ferne zusehen, wie es geschieht, zusehen, wie unser Körper in Fetzen gerissen wird oder ein geliebter Mensch getötet wird, während ein Teil von uns abgespalten ist, als stünden wir neben uns und sähen zu, wie wir leiden.
»Es hat sich in Robert verwandelt?« flüstert Renee so leise, daß ich ihre Stimme kaum noch vernehmen kann.
»Deshalb trägt doch Mutter diese Perlenkette mit dem Amulett um den Hals. Sie nimmt es niemals ab.« Auch Vaire flüstert jetzt. »Sie behauptet, das Amulett könne das Wesen daran hindern, sich zu verwandeln.«
Renee starrt mich an. Und von innen heraus fühle ich Barrys Qual darüber, seiner geliebten Renee so nahe zu sein, ohne sie erreichen zu können, und selbst der Geist Roberts, der doch ausgelöscht ist, weint
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