Werwelt 02 - Der Gefangene
in diese Person gefahren war«, meint er, während er langsamen Schrittes um den Lastwagen herumgeht.
»Ich hab’ sie neulich hier draußen gesehen«, bemerkt Orville, der eine große Rolle Seil über der Schulter trägt. »Sie hat mächtig geschimpft und geschrien, und ein paar Leute haben sie dann weggezogen.«
Die beiden Männer blicken auf den Jungen, der da mit der riesigen Rolle Seil vor ihnen steht, und beide fangen zu gleicher Zeit zu lachen an.
»Orv«, sagt der junge Mann prustend und hält sich den Kopf, »mit dem Strick hättst du sie zum Paket zusammenschnüren können. Warum hast du nicht gleich die Heugabel mitgebracht?«
»Genau, da hättst du einen ganzen Frauenverein damit fesseln können«, stimmt der ältere Mann zu.
Orville ist zunächst ein bißchen gekränkt, aber dann grinst er und erwidert etwas prahlerisch: »Auf jeden Fall wär sie uns nicht abgehauen, das kann ich euch sagen.«
»Ach, gib nicht so an, Orville«, entgegnet der junge Mann, und dann gehen sie alle drei ins Haus zurück.
Seitdem hält mindestens einer von der Familie ständig bei mir Wache. Nachts werden außerdem noch die Hunde zur Abschreckung an den Lastwagen gebunden. Ich versinke langsam in einen Zustand, den man vielleicht als Gefängnisapathie bezeichnen könnte. Meine Wunden heilen, aber es geht langsam, und die Hitze, das miserable Essen, die ständige bedrückende Anwesenheit der alten Hexe lähmen mich, so daß ich mich dauernd sehr müde fühle. Gestern war es schon beinahe so, als wären die Menschenmengen gar nicht da. Ich habe sie nur als einen murmelnden Strom verschwommener Gesichter wahrgenommen. Schwingungen, die von ihnen ausgingen, stumpften zu einer dumpfen Monotonie der Langeweile ab. Sie waren wie ein endloser Wurm lebender Materie, der sich die Stufen heraufwindet, über den Heuwagen kriecht, neben dem Lastwagen einen Moment lang innehält, um sich dann weiter zu schlängeln. Und nicht ein Glied unterschied sich vom anderen, alle waren sie einander gleich.
Heute errichten der junge Mann und der dicke Junge einen Zaun in der Einfahrt zwischen dem Haus und dem Stall. Ich vermute, weil ein paar Leute mit ihren Autos zu weit hereingefahren sind und versucht haben, gratis einen Blick auf die große Attraktion zu werfen. Lustlos liege ich in der glühenden Hitze und sehe ihnen zu, während ich gleichzeitig dem Hintergrundgemurmel der Menge lausche. Ich habe mich ihren Stimmen so weit verschlossen, daß sie mir nicht lauter in den Ohren klingen als das Rascheln von Blättern oder das Summen von Insekten. Ich gönne den Gaffern einen Blick auf mein Fell, und das ist so ziemlich alles. Wenn ich mich nicht umdrehen muß, um meinen starren Muskeln Linderung zu verschaffen, zeige ich mein Gesicht nicht.
Plötzlich spüre ich, wie Barry in mir erwacht. Beinahe zwingt er mir den Kopf in die Höhe. Ich dränge ihn zurück, verärgert darüber, daß er mich in der Hitze und der endlosen Langeweile des Tages stört.
»Steh auf, verdammt noch mal«, sagt Barry.
Nein.
»Sie ist da draußen!«
Ich wälze mich auf die andere Seite und spähe unter meinem Vorderlauf hervor auf die Menge. Ein halbes Dutzend Menschen steht auf dem Heuwagen, der mit Seilen abgesperrt ist, so daß es aussieht, als befänden sich die Leute in einem fahrbaren Boxring. Und in diesem Ring stehen zwei Frauen, die ich kenne, die eine mit glänzendem schwarzen Haar und weißer Haut, die andere mit kurzem blonden Haar, ganz in Grün gekleidet. Es sind die Schwestern Renee und Vaire. Renee sieht fragend und verwirrt aus, wie sie da steht, eine Hand auf dem obersten Seil, mit der anderen das Händchen ihrer Tochter Mina umschließend, eines zierlichen dunkelhaarigen Mädchens, dessen Gesicht vor Erregung glüht.
»Mami, schau doch mal!« Das kleine Mädchen springt auf und nieder. »Es ist großer goldener Bär.«
Vaire tritt ein Stück vom Seil zurück, die eine Hand auf ihr Herz gepreßt.
Barry läßt nicht locker. »Steh auf, verdammt noch mal!«
Nein. Wir können nichts riskieren.
Doch er stemmt sich mit solcher Gewalt gegen mich, daß es einfacher ist nachzugeben. Der Gedanke schießt mir durch den Kopf, daß ich vielleicht in den letzten Tagen allzu apathisch geworden bin. Ich muß etwas tun, ehe meine Willenskraft durch die Gefangenschaft so schwach wird, daß ich diesen Menschen widerstandslos gestatte, mit mir zu tun, was sie wollen. Ich kann, wenn ich muß, diese beiden Frauen meinem Willen unterwerfen, auch wenn mir das bei
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