Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
Vom Netzwerk:
kommen zurück?« Langsam kam ich näher, den Blick auf die Straße gerichtet, dorthin, wo ich fürchtete, jeden Moment ein Paar Scheinwerfer vor uns aufflammen zu sehen. Der kalte Regen wusch die Benommenheit fort und ließ mich frösteln. Einen halben Schritt hinter Cale blieb ich stehen und legte ihm meine Hand auf den Arm, der unter meiner Berührung erbebte. »B ist du verletzt? Haben sie–«
    »S erena, bitte!« Seine Stimme glich einem tiefen Grollen. Vielleicht hatte er recht damit, wütend auf mich zu sein. Ich hatte ihm versprochen, mich im Nebenraum zu verschanzen, wo ich in Sicherheit gewesen war. Andererseits war keinem von uns etwas passiert– vielleicht wäre es weniger glimpflich ausgegangen, wenn ich auf ihn gehört hätte.
    » Cale.« Ich zwang ihn, sich zu mir herumzudrehen, und erstarrte, als ich sein Gesicht sah. Jedes Wort, jedes Argument, mit dem ich mein Handeln hatte verteidigen wollen, zersplitterte in tausend Scherben. Seine Gestalt war noch immer menschlich. Ansonsten war von dem Jungen, den ich kannte nichts mehr geblieben. Das Gesicht … die Fratze vor mir war die eines Dämons. Jener Kreatur, deren Abbild ich in Dads Buch gesehen hatte. Messerscharfe Reißzähne ragten aus seinem Mund und gruben sich in eine Lippe, die mehr dem lippenlosen Maul einer Echse glich als dem Mund eines Menschen. Seine Augen leuchteten blau, so hell, dass sie regelrecht zu glühen schienen, und dort, wo sich einst schön geschwungene Augenbrauen befunden hatten, wuchsen flache Hornplatten aus seiner Stirn, die sich über die gesamte Schädeldecke zogen. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch das Haar verschwunden war. Anstelle der vertrauten Locken überzog die geschuppte Haut einer Echse seinen Kopf. Mein Blick schoss hin und her, zuckte von seiner Fratze zu den Reißzähnen und runter zu seinen Händen … die nicht länger Hände, sondern gebogene Klauen waren.
    Ich wich zurück. Cale– das Wesen, das einmal Cale gewesen war– folgte mir.
    »B leib mir vom Leib!«, fuhr ich ihn an, doch er blieb nicht stehen.
    Ganz langsam, die klauenbewehrten Hände erhoben, kam er näher. Ich wusste, dass ich ihm nicht entkommen konnte. Er war zu schnell für mich. Also tat ich das einzig Logische– ich ging zum Angriff über.
    Die Fäuste geballt, sprang ich auf ihn zu. Ich schlug auf ihn ein, traf ihn an der Brust, der Schulter und den Armen. Er wehrte sich nicht, ließ meine Schläge einfach über sich ergehen, als wären sie Insektenstiche.
    »V er– schwin– de!«, schrie ich, während ich weiter auf ihn eindrosch. »H au ab! Lass dich hier nie wieder sehen! Du ver-damm – ter Lügner!« Tränen rannen mir über die Wangen und mischten sich mit dem Regen. Mein wütendes Geschrei ging mehr und mehr in hilfloses Schluchzen über, trotzdem konnte ich nicht aufhören.
    Cale machte noch immer keine Anstalten, mir auszuweichen. Er ließ mich auf sich einschlagen, ließ mich schreien und heulen, bis ich das Gefühl hatte, jemand hätte mir alle Kraft aus dem Leib gesogen. Dann griff er nach meinen Armen. Panik erfüllte mich. Ich versuchte, mich loszureißen, doch er ließ es nicht zu. Er drehte mich herum, bis ich mit dem Rücken zu ihm stand, und umschlang mich so fest von hinten, dass meine Arme gegen meinen Körper gepresst wurden. Ich strampelte und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er war zu stark. Selbst als mich meine Kräfte längst verlassen hatten, kämpfte ich noch immer gegen ihn an.
    Hör auf, Serena, drang seine vertraute Stimme in meinen Geist. Bitte.
    Das konnte ich nicht. Ich konnte nicht von der Wut, der Angst und der Enttäuschung, die mich bis in die letzte Faser meines Körpers erfüllten, ablassen. Würde ich es tun, bliebe nichts mehr. Nur noch Leere.
    »I ch wollte nicht, dass du das siehst.« Dieses Mal sprach er die Worte aus. Sein Mund– Maul– war unmittelbar neben meinem Ohr und sein heißer Atem strich über meinen Hals. Seine Stimme klang dunkler, als ich sie kannte. Kehlig und rau. »S o sehen wir in Wirklichkeit aus. So sehe ich aus.«
    »D u hast mich angelogen«, keuchte ich und versuchte erneut, mich aus seiner Umarmung zu befreien. Er verstärkte seinen Griff weiter, bis ich mich nicht mehr bewegen konnte.
    »I ch wollte nicht, dass du schreiend davonläufst, wenn du mich siehst. Deshalb habe ich das Gesicht des Jungen angenommen, das ich in deinem Geist gesehen habe.«
    Ich hätte es ahnen müssen. Es war zu glatt gelaufen. Zu einfach. Warum war ich nicht

Weitere Kostenlose Bücher