Wesen der Nacht
misstrauisch geworden, als Cales Äußeres genau meiner Vorstellung entsprochen hatte? In jedem verdammten Detail!
Es war alles nur eine Lüge gewesen.
Du warst noch nicht so weit, mich so zu sehen, erklang seine Stimme erneut in meinem Geist.
»V erschwinde aus meinem Kopf«, zischte ich.
»E ntschuldige.« Sein Tonfall war sanft, doch sein Griff noch immer eisern. »I ch wollte dir keine Angst machen und ich wollte dich nicht abstoßen. Deshalb habe ich es getan. Was du siehst, ist mein wahres Gesicht, aber ich bin kein anderer, Serena. Ich bin weder gefährlicher, noch denke oder fühle ich anders.«
Ich wartete darauf, dass er weitersprach, mich beruhigte und davon überzeugte, dass er noch immer der war, den ich kennengelernt hatte, doch er sagte nichts mehr. Für eine Weile waren das Rauschen des Regens und das Hämmern meines eigenen Herzens die einzigen Geräusche. Schließlich hielt ich die Stille nicht mehr aus. Ich versuchte, mich zu bewegen, aber Cale hielt mich noch immer so fest, dass es mir nicht gelang. Als er begriff, dass ich mich nicht befreien, sondern zu ihm herumdrehen wollte, lockerte er seinen Griff ein wenig, ohne mich jedoch loszulassen. Es fiel mir noch immer schwer, ihn anzusehen– ganz besonders, wenn er mir so erschreckend nah war. Trotzdem zwang ich mich dazu. Ich ließ meinen Blick über seine echsenhaften Züge gleiten, nahm jedes Detail in mich auf; die flachen Hornplatten, das helle Glühen seiner Augen und die scharfen Eckzähne. Seine Nase war flach, die Nasenlöcher lagen beinahe an ihrer Oberseite, die Ohren waren klein und nur von einer Art verkümmerter Ohrmuschel umgeben. Seine Augen waren faszinierend. Die Augenlider hatten keine Wimpern und wenn ich näher hinsah, glaubte ich zu erkennen, dass seine Pupillen leicht geschlitzt waren, doch sie waren weder gelb noch braun, wie ich es bei einem Reptil erwartet hätte.
Plötzlich wollte ich wissen, wie sich seine Haut anfühlte. Als ich versuchte, die Hand zu heben, gab Cale sie zunächst nicht frei. Unsere Blicke trafen sich. Ich sagte nichts, sah ihn nur an, mein Blick noch immer verschwommen von den Tränen. Was auch immer er darin sah, es veranlasste ihn, meinen Arm freizugeben.
Meine Finger zitterten, als ich die großen Hornplatten auf seiner Stirn berührte. Sie waren warm und nass vom Regen, doch sie fühlten sich nicht glitschig an, wie ich es erwartet hatte. Behutsam zeichnete ich die Linien seines Gesichtes nach, tastete mit meinen Fingerspitzen über seine Haut, die sich überraschend weich anfühlte, ließ sie über seine Wangen zu seinem Mund wandern.
Cale hielt den Atem an.
Diese winzige Reaktion auf meine Berührung war es, die mich begreifen ließ, dass dieser Moment für ihn ebenso schwierig war wie für mich. Als mir das klar wurde, wich alle Angst und Wut von mir.
»F alls du in dieser Gestalt nicht ein paar Stunden ohne Luft überleben kannst, solltest du wieder anfangen zu atmen«, sagte ich leise.
Ein Lächeln umspielte seinen Mund und offenbarte das volle Ausmaß seiner Reißzähne. Er machte einen langen, tiefen Atemzug. »W illst du weiter auf mich einschlagen?«
Ich schloss beschämt die Augen. »E s tut mir leid, ich habe…« Ich hatte die Kontrolle verloren. Vollständig. Hatte mich gehen lassen und mich meinem Entsetzen und Selbstmitleid hingegeben. Oh mein Gott, ich hatte ihn geschlagen! Und nicht nur einmal! Ich hatte auf ihn eingedroschen wie eine Irre! »D as hätte ich nicht tun dürfen.«
»I ch habe es wohl verdient.«
»D as ist keine Entschuldigung.«
»N ein, aber eine Erklärung.« Er senkte den Kopf und sah mir prüfend in die Augen. »W enn ich dich jetzt loslasse, läufst du mir dann weg?«
»I ch glaube nicht, dass ich dafür noch die nötige Kraft habe.«
Cale gab mich frei und trat einen Schritt zurück. Ich beugte mich nach vorne, stützte die Hände auf die Knie und versuchte, mich zu sammeln. Als ich wieder aufsah, blickte mir nicht länger das Gesicht eines Dämons entgegen, sondern das des blonden Jungen, den ich kannte. Oder zu kennen meinte. Obwohl ich mich dafür schämte, atmete ich auf.
»I ch kann dieses Aussehen für dich beibehalten«, sagte er. »S olange ich unter Menschen bin, muss ich das ohnehin tun. Aber ich weiß nicht, ob du vergessen kannst, was sich darunter verbirgt.«
Ich wollte es versuchen, aber ich konnte nicht versprechen, dass es mir gelingen würde, die Fratze aus meiner Erinnerung zu bannen. »W arum hast du dich
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