Wesen der Nacht
gesessen hatte, war es mir unangenehm gewesen und ich hatte mich seltsam befangen gefühlt. Jetzt konnte ich ihm nicht nah genug sein. Ich kuschelte mich an ihn, meinen Kopf auf seiner Schulter, den Blick auf den Herzstein mit seinem pulsierenden Leuchten gerichtet.
»W ie kommt es, dass du so viel über die Menschen weißt?« Dafür, dass er erst seit Kurzem in unserer Welt und die meiste Zeit davon in eine Kiste gesperrt gewesen war, wusste er ungewöhnlich viele Dinge.
Er zögerte einen Moment, dann sagte er: »I m Gegensatz zu hier ist es im Jenseits kein Geheimnis, dass noch eine andere Welt existiert. Ich wurde über das Wesen dieser Welt und der Menschen unterrichtet.«
»I hr habt Schulen?« Ich war mir immer noch nicht sicher, wie ich mir das Jenseits vorstellen sollte, aber ganz sicher war es für mich kein Ort, an dem es Schulen gab, in denen junge Dämonen, Gestaltwandler und wer weiß, was sonst noch für Wesen lachend und schwatzend von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde liefen und irgendwann ihren Abschluss machten.
»N ein, es gibt keine Schulen, aber wer es sich leisten kann, findet Wege, seine Kinder unterrichten zu lassen. Es ist ein wenig wie damals bei euch im Mittelalter, als der größte Teil der Bevölkerung arbeitete und dumm blieb, während ein kleiner Teil in den Genuss von Bildung kam.«
»D er Adel.«
»A delstitel gibt es nicht. In unserer Gesellschaft erwirbt man sich seine Stellung durch Geschäfte und die richtigen Kontakte. Jemand kann ganz oben sein und trotzdem tief abstürzen, wenn ihn diejenigen fallen lassen, die ihn unterstützt haben.«
»D ann bist du reich?«
»E s ist eher so, dass ich die richtigen Kontakte und die passende Stellung hatte.« Gedankenverloren strich er über meinen Arm und zog mich noch enger an sich. Seine Lippen streiften meinen Haaransatz.
»I ch würde deine Welt gerne sehen«, murmelte ich an seiner Schulter.
»D ort gibt es kein Tageslicht.«
»W irklich nicht? Dann bist du wohl ein echtes Wesen der Nacht. Lass das bloß nicht Pepper mit ihrer Vampirliebe hören.«
»S ie wird nicht an mir interessiert sein, ich zerfalle nicht zu Staub, wenn mich jemand in die Sonne stellt.«
»T rotzdem würde ich gerne sehen, wo du herkommst.«
»I ch weiß nicht, ob ich dich so lange festhalten kann, bis du deinen Schock überwunden und aufgehört hast, auf harmlose Passanten einzuschlagen.«
Beschämt hob ich den Kopf, um ihn anzusehen. »E s tut mir so schrecklich leid, Cale. Ich… war so erschrocken und verletzt.«
»V erletzt?«
»D u hast mir die ganze Zeit über ein Gesicht gezeigt, das nichts weiter als eine Lüge war.«
»K eine Lüge. Eine Tarnung, damit ich mich unbemerkt in dieser Welt bewegen kann.« Seine Hand strich immer noch über meinen Arm. »D as Gesicht, das ich vor meiner Gefangennahme angenommen hatte, mag ein anderes gewesen sein, als das, das ich jetzt trage, aber als ich das Bild aus deiner Vorstellung aufgefangen habe, dachte ich einfach… ich dachte, es wäre ein Gesicht, das dir gefällt. Und das war alles, was ich wollte: Dir gefallen.«
»I ch hätte das nicht tun sollen.«
»D u meine Güte, jetzt hör endlich auf. Ich kann verstehen, warum du die Fassung verloren hast, und ich bin dir ganz sicher nicht böse.«
Ich war erleichtert, dass er mir mein Verhalten nachsah, es änderte aber nichts daran, dass ich mich noch immer dafür schämte. Außerhalb meines Trainings mit Gus hatte ich noch nie jemanden geschlagen– bestenfalls hatte ich von Zeit zu Zeit den Wunsch verspürt, es zu tun. Dass ich es dann tatsächlich getan hatte, nagte an mir. Ebenso wie etwas an seinen Worten an mir nagte, es dauerte allerdings eine Weile, bis mir bewusst wurde, was das war. »B evor ich gekommen bin, hattest du ein anderes Gesicht angenommen?« Als er nickte, fuhr ich fort: »W ie viele Gesichter hast du in deinem Programm?«
Er grinste. »A lle. Zumindest viele. Solange ich meine Gestalt nicht in ihrer eigentlichen Größe verändere, kann ich jedes Aussehen annehmen.«
»D u könntest also aussehen wie Johnny Depp?«
»W enn du mir ein Bild von ihm zeigst. Willst du das denn?«
Ich dachte einen Moment darüber nach, dann schüttelte ich den Kopf und ließ meine Finger über seine Wange wandern. »N ein, ich habe mich schon zu sehr an dieses Gesicht gewöhnt.« Ich richtete mich ein wenig auf, stützte mich auf den Ellbogen und sah ihn an. »I st das nicht eher Gestaltwandeln? Ich dachte, du bist ein Geistwandler.
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