Wesen der Nacht
ich eine Dummheit machen und meine hart erkämpfte Freiheit durch ein paar unbedachte Worte selbst aufs Spiel setzen konnte, verschwand ich mit meiner Tasse aus der Küche. Draußen sammelte ich meine Tasche ein und lief die schmale Treppe nach oben. Unter der Dachschräge meines Zimmers hatte sich die Hitze des Tages gesammelt. Die Luft war stickig und nach der Kühle unten unangenehm warm. Ich ließ meine Tasche zu Boden gleiten, stellte den Tee auf dem Schreibtisch ab und befreite mich aus meiner Schuluniform. Sobald die Sachen im Wäschekorb waren und ich in Jeans und T-Shirt steckte, ließ ich mich in den Schreibtischstuhl fallen. Mein Bauch tat weh, dort wo mich einer der Kerle geboxt hatte, und ich würde wohl einige blaue Flecken bekommen, ansonsten schien mir nichts zu fehlen. Zumindest nicht körperlich.
Eine Weile starrte ich einfach nur vor mich hin, ließ meinen Blick durch mein Zimmer schweifen und hielt mich an der Ordnung fest, die hier herrschte. Alles hatte seinen Platz und bis auf das Buch auf meinem Nachttisch und ein paar Schulunterlagen auf meinem Schreibtisch lag nichts herum. Wenn es um mein Zimmer ging, war ich ein echter Freak. Selbst meine Eltern machten sich über meine ungewöhnliche Ordnungsliebe lustig, die ich mir schon sehr früh angeeignet hatte. Vermutlich ging es mir damals, als ich angefangen hatte, mein Zimmer aufzuräumen und sauber zu halten, gar nicht so sehr darum, dass alles seinen Platz haben sollte. Vielmehr war es wohl das Aufräumen an sich, das ich brauchte. Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, das mich davon abhielt, über andere Dinge nachzudenken. Andere Dinge wahrzunehmen. Der Grund, aus dem ich diesen Sauberkeitstick entwickelt hatte, war längst verschwunden. Die Ordnungsliebe war geblieben, wenn auch nicht mehr so extrem. Ich hasste Staub und ich konnte es nicht leiden, wenn Papiere unordentlich gestapelt waren. Bücher schob ich immer so hin, dass sie im rechten Winkel zur Tischkante lagen, bei Stiften war es dasselbe. In meinem Zimmer stapelte sich kein altes Geschirr, die schmutzige Wäsche lag im Wäschekorb und alle anderen Klamotten befanden sich ordentlich zusammengefaltet oder auf Bügel gehängt in meinem Schrank. Ordnung war gut. Sie bedeutete Sicherheit und Kontrolle. Beides Dinge, nach denen ich mich im Augenblick sehnte.
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Beinahe sofort kehrte die Erinnerung an den rauen Stoff des Sacks, den modrigen Geruch und den Griff fremder Hände zurück. Also öffnete ich die Augen wieder und holte meinen iPod aus der Tasche. Entschlossen, mich nicht von der Angst überrollen zu lassen, steckte ich mir die Stöpsel in die Ohren und drehte die Lautstärke auf.
Ich saß nur da, lauschte der Musik und versuchte, an nichts zu denken. Als das nicht funktionierte, ließ ich die Bilder des Überfalls Revue passieren, versuchte mich an etwas zu erinnern, was der Polizei helfen könnte, diese Kerle zu erwischen. Da war die Tätowierung. Mehr wollte mir jedoch beim besten Willen nicht einfallen. Von dem Tätowierten einmal abgesehen, hatte ich auf keinen der anderen mehr als einen flüchtigen Blick erhaschen können. Meine Beschreibung fiel ebenso dürftig aus wie die des Wagens, in den sie mich hatten zerren wollen. Trotzdem griff ich mir einen Bleistift und kritzelte alles, woran ich mich erinnern konnte, auf ein Blatt Papier.
Nachdenklich trommelte ich mit dem Stift auf der Tischplatte herum und versuchte mich an weitere Details zu erinnern, als mir plötzlich bewusst wurde, dass die Polizei überhaupt nicht gekommen war. Hatte Mr Miller sie vielleicht erst gerufen, nachdem er mich nach Hause geschickt hatte? Wenn die Bullen bei uns vor der Tür auftauchten, war ich geliefert! Mom würde durchdrehen.
Als in den folgenden zwei Stunden jedoch weder das Telefon klingelte, noch irgendjemand an der Tür stand, wagte ich zu hoffen, dass niemand mehr kommen würde. Wenn mir das Glück gewogen blieb, hatte Mr Miller seine Aussage zu Protokoll gegeben und ich konnte in den nächsten Tagen auf die Wache fahren und dasselbe tun, ohne dass Mom davon Wind bekam.
Am liebsten wäre ich in meine Turnschuhe geschlüpft und laufen gegangen, um meine Rastlosigkeit loszuwerden, aber ich traute mich nicht vor die Tür.
Schließlich schaffte ich es auch so, mich ein wenig zu beruhigen, und bis zum Abendessen hatte ich sogar einen Teil meiner Hausaufgaben fertig. Mom verlor kein Wort mehr über Handys und ständige
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