Wesen der Nacht
verstanden. Das ist eine große Stadt. Ein gefährlicher Ort für ein junges Mädchen. Ich will wissen, wo du dich aufhältst und mit wem.«
Jetzt benahm sie sich genauso schlimm wie früher. Vielleicht sogar schlimmer. Prüfend sah ich sie an. Ihre helle Haut wirkte heute ungewöhnlich fahl, fast schon grau. Auch die dunklen Ringe unter ihren Augen waren mir zuvor noch nicht aufgefallen. Ihr kurzes Haar war stumpf und glanzlos und sie sah aus, als hätte sie seit zwei oder drei Nächten nicht mehr geschlafen. Etwas war nicht in Ordnung, nur wollte mir natürlich wieder niemand sagen, was los war.
»M om, stimmt etwas nicht?«
»W as soll denn nicht stimmen?«
»I ch weiß nicht, du benimmst dich doch sonst… schon lange nicht mehr so.«
Ihre Augen wurden gefährlich schmal, als sie fragte: »W ie benehme ich mich denn?«
Tentakelig. »Ü berfürsorglich.«
Für einen Moment huschte ein Schatten über ihr Gesicht, dann glätteten sich ihre Züge wieder. Sie seufzte. »I ch weiß, dass dir mein Verhalten manchmal seltsam vorkommen muss, aber wir leben nun einmal in einer gefährlichen Welt, und ich will, dass du in Sicherheit bist. Ich will dich beschützen, Kind.«
»A ber du musst mich doch nicht gleich einsperren oder auf Schritt und Tritt überwachen. Wie soll ich da jemals lernen, auf eigenen Beinen zu stehen?«
»D u hast ja recht«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »I ch kann nur nicht aus meiner Haut.«
Ich spürte, dass das nicht alles war. Hinter Moms Verhalten musste mehr stecken. Wie gerne hätte ich ihr in diesem Augenblick gesagt, dass ich Bescheid wusste, dass sie aufhören konnte, ihr Geheimnis vor mir zu hüten und endlich anfangen sollte, mit mir darüber zu sprechen. So vehement, wie sie sich in dem Telefonat mit Dad geweigert hatte, mich einzuweihen, wagte ich es jedoch nicht, ihr das zu sagen. Am Ende würde sie mich dann erst recht einsperren. Nein, solange ich nicht mit Dad über alles geredet hatte, wollte ich Mom gegenüber mein Wissen für mich behalten. Ein indirekter Vorstoß konnte allerdings nicht schaden. »M om, ich bin nicht Tante Beth, falls du davor Angst hast.«
»I ch weiß.« Moms Augenlid zuckte. In einer erschöpften Geste fuhr sie sich mit der Hand über das Gesicht. Als sie den Arm wieder sinken ließ, hatte das Zucken aufgehört. »S ei einfach vorsichtig. Und jetzt geh deine Hausaufgaben machen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb unentschlossen im Flur stehen. Als ich ihre Stimme hörte, näherte ich mich der Küchentür.
»V erdammt, William, geh ran! Es ist mir egal, ob du sauer bist.« Sie war am Telefon und versuchte offensichtlich ebenso dringend wie ich, Dad zu erreichen. »H ör auf, meine Anrufe zu ignorieren und ruf mich endlich zurück!«
Bevor sie aus der Küche stürmen und mich lauschend vor der Tür finden konnte, verzog ich mich in mein Zimmer. Ich verbrachte einige Zeit mit meinen Hausaufgaben, konnte mich aber mehr schlecht als recht konzentrieren, und schließlich gab ich ganz auf. Das meiste davon musste ich sowieso erst in ein paar Tagen abgeben und für morgen würde der Teil ausreichen, den ich geschafft hatte. Unruhig trommelte ich mit dem Bleistift auf der Tischkante, bevor ich ihn mit einem frustrierten Seufzer ins Federmäppchen katapultierte und mich zurücklehnte.
» Cale? Bist du da?«
Ein paar Sekunden vergingen, ohne dass sich etwas tat.
» Cale?«
Ein vertrautes Gefühl durchflutete meinen Geist. Ich war nicht mehr allein.
Ich bin hier, Prinzessin.
»W arum nennst du mich so?«
Weil du für mich etwas Kostbares bist. Der einzige Mensch, der je mit mir zu tun haben und mein Freund sein wollte.
Meine Wangen begannen zu glühen und als ich einen Blick zum Wandspiegel warf, sah ich, dass mein Gesicht zartrosa angelaufen war. In meinem Bauch kribbelte es. »D u hast gesagt, dass du damals dachtest, du hättest mich verloren. Warum hast du trotzdem nach all den Jahren versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen?« Es war die Frage, die ich ihm schon gestern gestellt hatte, vor deren Beantwortung ich aber eingeschlafen war. Ob er mich vermisst hatte? War er neugierig gewesen, was aus mir geworden war und wollte mich wiedersehen? Wobei wiedersehen wohl nicht ganz das richtige Wort war, denn er hatte mich bisher ebenso wenig zu Gesicht bekommen wie ich ihn.
Ich stecke in Schwierigkeiten und du bist mein einziger Kontakt in dieser Welt. Meine einzige Hoffnung.
Also
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