Wesen der Nacht
waren in Ordnern abgeheftet, die in einem weiteren offenen Regal standen. Das Fenster war klein und der Raum größtenteils in dunklem Holz und Leder eingerichtet, trotzdem wirkte er nicht finster oder unheimlich, sondern strahlte eine Behaglichkeit aus, die Sehnsucht nach alten Zeiten in mir weckte. Die Sesselkissen waren nicht zerknautscht und neben dem Kamin lag ein Stapel frisches Holz aufgeschichtet. Einzig der Stuhl hinter Dads Schreibtisch sah aus, als hätte er ihn stehen gelassen, wo er beim letzten Aufstehen zum Halten gekommen war.
Mein Blick blieb auf dem Kaminsims hängen, das bis auf den letzten Platz mit Fotos von Mom, Trick und mir vollgestellt war. Geburtstage, Weihnachten, unsere Einschulung, eine Siegerehrung nach einem meiner Hockeyturniere– hier fand sich der Teil unseres Familienlebens wieder, an dem Dad all die Jahre nicht teilgenommen hatte.
Ein Blinken auf dem Schreibtisch zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Anrufbeantworter. 37 blinkte dort in großen, roten Ziffern. Ich drückte die Starttaste und ließ das Band ablaufen. Abgesehen von meinen eigenen Anrufen, stammten alle von Mom. Es war erschreckend zu hören, wie sich ihre Stimme von Tag zu Tag und von Anruf zu Anruf verändert hatte. Anfangs waren ihre Nachrichten ein wenig ausführlicher gewesen, mit einem wütenden Unterton. Mit jedem Mal wurden sie kürzer und auch der Tonfall änderte sich, wandelte sich von einem zornigen »R uf an« und einem »V erdammt, wo steckst du?« hin zu einem besorgter klingenden »M elde dich endlich!«, um mit einem »I ch mache mir Sorgen um dich« und »W ill, bitte!« zu enden.
Ich wusste, dass sie versucht hatte, Dad zu erreichen, allerdings hatte ich nicht geahnt, wie verzweifelt und wie oft sie es versucht hatte. Kein Wunder, dass Mom während der letzten eineinhalb Wochen so neben der Spur gewesen war.
Leider fand sich jedoch weder auf dem Anrufbeantworter noch auf Dads Schreibtisch ein Hinweis darauf, wo er steckte. Ich schaltete den PC ein, in der Hoffnung, dort etwas zu finden. Das Gerät startete mit einem Schnurren und blieb dann bei einer aufdringlichen Maske hängen, deren blinkender Cursor mich dazu aufforderte, das Passwort einzugeben. Mein Glück als Codeknacker würde ich später versuchen, erst einmal wollte ich mir den Rest des Hauses ansehen. Vielleicht fand ich ja in Tricks Zimmer etwas.
Einmal mehr durchquerte ich den Windfang, dieses Mal schloss ich die Haustür, machte mir aber weder die Mühe, meine Reisetasche aufzuheben, noch die Post einzusammeln, bevor ich durch die Küche nach oben ging. Am Ende der Holztreppe öffnete ich die Tür zum Obergeschoss und stand in dem kleinen Flur mit seinen vier weiteren Türen. Eine führte in ein Badezimmer, eine in einen Abstellraum, in dem die Waschmaschine und der Trockner standen, und die anderen beiden in Tricks und mein Zimmer. Nach einem raschen Blick in Bad und Abstellraum wandte ich mich Tricks Zimmer zu. Der Raum war winzig, mit einer Dachschräge, die es unmöglich machte, mehr als einen kleinen Schrank und ein Bett darin unterzubringen. Wie zu Hause auch lagen Tricks Klamotten überall verstreut und ich unterdrückte den Impuls, sie aufzusammeln und in den Schrank zu räumen– oder wenigstens in den Wäschekorb zu verfrachten. Neben seinem Bett, das eigentlich nur aus einer Matratze auf dem Boden bestand, stand eine umgedrehte Gemüsekiste, die ihm als Nachttisch diente. Darauf lag sein Handy. Das Display war dunkel, entweder hatte er es nicht eingeschaltet oder der Akku hatte irgendwann den Geist aufgegeben. Aber warum, zum Teufel, hatte er das Handy zurückgelassen? Auch wenn diese Ecke des Landes für ihre Funklöcher berühmt war, gab es doch immer wieder Gegenden, in denen man durchaus Empfang hatte. Ganz zu schweigen davon, dass Trick und sein Handy in London beinahe eine Einheit gewesen waren und er sich dort niemals ohne das Teil aus dem Haus gewagt hätte.
Auf dem Boden neben dem Gemüsekistennachttisch entdeckte ich sein Laptop. Ich klappte es auf und drückte den Einschaltknopf. Nichts passierte. Also sah ich mich nach dem Ladekabel um und fand es schließlich unter ein paar Klamotten in einem umgekippten Wanderstiefel. Kopfschüttelnd schloss ich es an und hängte den Laptop an die Steckdose. Später würde ich mir ansehen, ob sich darauf etwas fand, was mir einen Hinweis geben konnte.
Die letzte Tür war die schwerste. Ich wusste nicht, ob ich erwartet hatte, dass mein Zimmer immer noch aussah wie vor
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