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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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ein und wachte erst kurz vor Inverness wieder auf, gerade rechtzeitig, um meine Sachen zusammenzupacken, ehe es Zeit zum Aussteigen war.
    Im Vergleich zur Euston Station war der Bahnhof von Inverness winzig. Die Halle war ungefähr so groß wie die Cafeteria meiner Schule und es gab lediglich einen kleinen Zeitschriftenladen und einen Souvenirshop. Nur zu gern wäre ich nach draußen gegangen und hätte mich ein wenig in der Hauptstadt der Highlands umgesehen, doch mein Anschlusszug fuhr schon auf dem Bahnsteig ein. Die Abteile füllten sich rasch mit Backpackern, die nach Kyle of Lochalsh und von dort aus weiter auf die Isle of Skye zu irgendeinem Bed & Breakfast oder Campingplatz wollten. Einige Tagestouristen mischten sich darunter und schon bald war der Zug erstaunlich voll. Nicht umsonst wurde die Strecke von Inverness nach Kyle of Lochalsh als eine der schönsten Schottlands bezeichnet. Die Landschaft, die an meinem Fenster vorbeizog, war atemberaubend. Das anfangs flache Land wurde bald von sanften, grünen Hügeln abgelöst, die immer höher zu werden schienen, je weiter wir kamen. Dunkle Seen, wunderschöne Cottages und alte Ruinen rauschten an mir vorüber, und unzählige Schafe, die überall die Wiesen bevölkerten. Ich war so gefangen vom Anblick der geliebten Landschaft, dass ich um ein Haar meine Station verpasst hätte. Duirinish war kein regulärer Halt, sodass ich dem Zugbegleiter Bescheid sagen musste– zum Glück schaffte ich es noch rechtzeitig.
    Ich war die Einzige, die ausstieg. Auf dem Bahnsteig, der nur aus einem dünnen Streifen Asphalt und ansonsten lediglich aus Schotter bestand, blieb ich stehen. Nach so vielen Jahren war ich endlich wieder zu Hause.

18
    Der Wind trieb bleigraue Wolken vor sich her, die sich immer weiter ausbreiteten, je näher ich meinem Ziel kam. War der Himmel vorhin noch überwiegend blau gewesen, schafften es jetzt nur noch vereinzelte Sonnenstrahlen, durch die Wolkendecke zu brechen. Das Licht hier war anders als in London. Die Farben kräftiger und irgendwie lebendiger als in der Stadt. Selbst die Wolken waren nicht diese triste graue Decke, die ich während der letzten zehn Jahre zur Genüge gesehen hatte, sondern ließen einzelne Formationen erkennen, die sich wie riesige Haufen auftürmten. Der Anblick war wunderbar. Allerdings erinnerte ich mich nur zu gut daran, wie schnell sich das Wetter in diesem Teil des Landes ändern konnte. Von Sonnenschein zu Regen und wieder zurück, binnen weniger Minuten. Unwillkürlich beschleunigte ich meinen Schritt, in der Hoffnung, es noch trocken zum Cottage zu schaffen.
    Nach all den Jahren war es merkwürdig, zurückzukehren. Es fühlte sich vertraut an, der einsamen Straße zu folgen, die sich zwischen Wiesen und Weiden hindurchwand, obwohl ich mich kaum an mehr erinnern konnte als an das Gefühl, wie es gewesen war, hier zu leben.
    Am Straßenrand grasten Schafe und Hochlandrinder, und selbst von hier aus waren die umwölkten Gipfel der Cuillin Hills auf der Isle of Skye am Horizont zu erkennen. Die Luft war ebenfalls vollkommen anders als in London. Kühler und so frisch und klar, dass es sich wie ein Traum anfühlte. Alles hier erschien mir so unwirklich, dass ich fürchtete, jeden Moment aufzuwachen und mich mit meiner Klasse in Edinburgh wiederzufinden.
    Vom Bahnhof waren es knapp zwei Kilometer bis zum Haus. Es dauerte nicht lange, bis ich das Rauschen der Brandung hörte, unter das sich die Rufe der Möwen mischten, die auf der Suche nach Beute über dem Meer kreisten. Die Küste kam mit jedem Schritt näher und damit auch das Zuhause meiner Kindheit. Von einem Gehöft einen Kilometer die Straße runter einmal abgesehen, war das Cottage das einzige Haus hier. Eine schmale Zufahrt zweigte von der Straße ab zu dem zurückversetzt liegenden Grundstück. Zunächst war nur ein Erdwall mit Ginsterbüschen zu sehen.
    Als das Cottage endlich dahinter auftauchte, war es so ganz anders, als ich es in Erinnerung hatte. Die Steinfassade sah heruntergekommen aus, vom Dach rinnendes Wasser hatte dunkle Spuren auf den einstmals weiß gestrichenen Steinen hinterlassen. Undurchdringliche Ranken von einem Grünzeug, dessen Namen ich nicht einmal kannte, zogen sich an der Wand nach oben und streckten ihre verschlungenen Finger nach der Dachkante aus. Das Haus war nicht nur viel kleiner, als es mir als Kind vorgekommen war, sondern auch dunkler, mit geradezu winzigen Fenstern, die mir fast schon feindselig entgegenstarrten.

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