Wesen der Nacht
das Buch, als wäre es eine Tür, die er aufzubrechen versuchte. Ich kniff die Augen zusammen. Hatte es gerade geflimmert? Drizzle warf sich noch einmal dagegen. Tatsächlich. »S o!«, sagte er. »U nd jetzt, wo du weißt, dass es verzaubert ist, schau es dir wirklich an.«
Ich zog das Buch aus dem Regal. Meine Fingerspitzen prickelten, als ich es berührte, der Titel verschwamm, die Buchstaben veränderten sich, wurden zu einer Sprache, die ich nicht kannte. »P rima«, brummte ich. »J etzt kann ich es nicht mehr lesen.«
»S chütteln.«
»W as?«
»D u hast den magischen Schleier noch nicht ganz durchbrochen. Schüttle es.«
Ich folgte seiner Aufforderung und wieder veränderte sich die Schrift auf dem Einband, Buchstaben verschwammen, lösten sich auf und formierten sich neu. Wesen der Nacht, stand nun dort. Gesammelte Notizen über das Jenseits von William Munroe.
» M ein Dad hat das geschrieben?«
»E ntweder er oder ein anderer William Munroe, du…« Er schluckte das dumme Ding hinunter, was ich ihm hoch anrechnete, und folgte mir, als ich mit dem Buch zum Schreibtisch zurückkehrte und mich in Dads Stuhl fallen ließ.
Hinter dem abgegriffenen Ledereinband verbarg sich kein gedrucktes Buch, sondern ein handgeschriebenes Journal. Beinahe auf jeder Seite gab es eine Zeichnung, manchmal hatte Dad auch ein Foto eingeklebt. Darunter fand sich eine Beschreibung des abgebildeten Wesens.
Ein Rumpeln lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Kobold hatte die Schublade mit Dads Zigarillos geöffnet, sich ein Stück abgebrochen und war gerade im Begriff, es anzuzünden.
»W as soll das werden?«
»W onach sieht es aus?«, sagte er, mit dem Stumpen im Mundwinkel.
»D u kannst doch nicht…«
Ungerührt riss er ein Streichholz an und hielt die Flamme gegen das Zigarrenstück in seinem Mund. Paffend zog er daran, bis die Glut sich ausbreitete und eine erste Rauchwolke in die Luft stieg. Dann pustete er das Streichholz aus, warf es in den Aschenbecher auf dem Tisch und blies einen dicken Rauchkringel in die Luft. »W as kann ich nicht?«
Konnte ich einem Kobold verbieten, zu rauchen und zu saufen? Ganz sicher war er alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Andererseits waren es die Vorräte meines Vaters, über die er sich hermachte, seit er der Transportbox entkommen war. Vermutlich hätte ich ihn darauf hinweisen können, allerdings war ich mir nicht sicher, ob das klug war. Im Augenblick schien Drizzle bereit zu sein, mir zu helfen. Und darauf war ich angewiesen. Ich seufzte. »V ersuch einfach, nicht im Suff das Haus abzufackeln, okay?«
»M ach dir keine Sorgen, Babe, Drizzle Ebb hat alles unter Kontrolle.«
Kopfschüttelnd richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Buch. Ich überflog die Seiten, ein Sammelsurium von Kreaturen, die ich sonst nur aus Fantasybüchern oder Horrorfilmen kannte, blieb an dem Eintrag über Tierwandler hängen, der zu den wenigen gehörte, die mit einem Foto versehen waren. Das Bild zeigte Dad, Trick und Gus Miller, die nebeneinander aufgereiht in die Kamera grinsten. Die Beschreibung entsprach exakt dem, was Gus mir über seine Art erzählt und was ich mit eigenen Augen gesehen hatte. Viele der anderen Zeichnungen und Bilder waren so verstörend, dass ich sie schnell überblätterte und nur auf die Überschriften achtete, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte: Geistwandler.
Fassungslos starrte ich auf die Zeichnung. Das musste ein Irrtum sein. Eine falsche Beschreibung. Cales Astralprojektion hatte ausgesehen wie ein normaler Junge, das Bild, das angeblich einen Geistwandler zeigte, war einfach nur… entsetzlich. Die Gestalt war die eines Menschen, doch das Gesicht und die Hände– Klauen– hatten etwas Echsenartiges an sich. Ich riss meinen Blick von der Zeichnung los und überflog die Beschreibung darunter.
»E in Geistwandler ist in der Lage, in den Geist eines anderen Lebewesens einzudringen, seine Gefühle zu erspüren und zu beeinflussen sowie seinem Opfer Gedanken und Ideen einzugeben, die dieses für seine eigenen halten wird«, las ich vor. »S timmt das wirklich, Drizzle?«
Der Kobold stieß nickend eine Rauchwolke aus. »F iese Drecksäcke, diese Geistwandler. Verpassen dir eine Gehirnwäsche und benutzen dich wie ein Werkzeug.«
Ein Irrtum. Es musste ein Irrtum sein!
Prinzessin?
Ich ließ erschrocken das Buch fallen, so unvermittelt war die Stimme in meinem Kopf aufgetaucht. Als hätte er gespürt, dass sein Lügengebilde gerade
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