Westfalenbraeu - Ostwestfalen-Krimi
seine Eltern und Isabel aus den Augen verloren zu haben, doch dann sah er, wie sie am Kopfende der mittleren der drei Tafeln Platz nahmen. Dort, wo sie der kleinen Bühne, auf der die Darsteller auftraten, am nächsten saßen.
Er verfluchte sich für die Idee, zusammen mit seiner Schwester Isabel seinen Eltern Karten für das ritterliche Krimimahl in den alten Gemäuern der Sparrenburg geschenkt zu haben. Der Gedanke daran, was passieren würde, wenn die beiden erst einmal in Fahrt kamen, ließ ihn erschaudern.
Anlass des Geschenkes war die Rubinhochzeit seiner Eltern. Vierzig Jahre Ehe, in Jans Augen eine unvorstellbare Zeit. Die Feier vor einem Vierteljahr in einem Landgasthof in der Nähe des elterlichen Hofs war gegen Ende zu einer peinlichen Selbstdarstellungsnummer geworden, in der Jans Eltern und sein Bruder Cord die Hauptrollen gespielt hatten, indem sie westfälisches Liedgut angestimmt und die Gäste lautstark zum Mitsingen aufgefordert hatten.
Ein bärbeißiger Mann in einem braunen Leinengewand geleitete ihn und weitere Gäste zu ihren Plätzen. Anschließend verbeugte er sich und verschwand wieder.
Plötzlich öffnete sich die große Flügeltür des Saales, und eine junge Frau stürzte herein. Sie blickte sich um, dann stieß sie einen schrillen Schrei aus. Jan erschrak für einen Augenblick, ehe er verstand, dass das Krimimahl bereits begonnen hatte und die Frau im Prinzessinnenkleid eine Darstellerin war.
»Was zur Hölle ist hier los? Vater! Was suchen all diese Leute hier?«, fragte die Frau empört.
Ein grauhaariger Mann in weißem Rüschenhemd, brauner Stoffweste und dunkler Lederhose trat hinter einem Paravent links von der Bühne hervor. Er trug einen Spitzbart und hielt einen Säbel mit langer Klinge in der Hand.
»Das Volk ist hier und möchte mit uns feiern, mein Kind! Ich habe alles dafür richten lassen. Wir kredenzen ihnen ein westfälisches Mahl, wie sie es zuvor noch nie erlebt haben.«
»Aber Vater, du weißt doch, dass Richard und ich uns das anders vorgestellt haben …«
»Es geht ja schon los«, flüsterte Jans Mutter quer über den Tisch. »Wie aufregend!«
»Mhmh.« Jan machte sich auf das Schlimmste gefasst.
»Natürlich weiß ich das, Luise!«, sagte der alte Mann – König Otto, wie Jan zuvor auf einem Flyer gelesen hatte – verständnisvoll. »Doch wie du weißt«, er machte eine kurze Pause, »hat unser Volk ein Recht darauf, zugegen zu sein, wenn die zukünftige Königin ihren Prinzen zum Gemahl nimmt. Schau sie dir an, sie alle sind nur deinetwegen hier.«
Fanfaren ertönten. Erneut wurde die große Flügeltür aufgestoßen. Die Vorspeise wurde von fünf Mägden in weißen Röcken und braunen Blusen auf großen Tabletts hereingetragen. Augenblicklich strömte der deftige Geruch westfälischer Spezialitäten durch den Saal.
»Herrschaften, wir reichen Euch als Vorspeise Speckpickert, Möppkenbrot und Wurstebrei, dazu Pumpernickel und ein untergäriges Bier. Lasst es Euch schmecken!«
Jan und Isabel verzogen synchron die Gesichter. Sie hatten sich auf so manches eingestellt, nachdem sie gehört hatten, dass zum Rittermahl ein westfälisches Menu gereicht werden würde, aber die Vorstellung, Wurstebrei essen zu müssen, war beängstigend.
»Liebes, wann gab es bei uns zuletzt mal Wurstebrei?«, fragte Heinrich Meyer zu Oldinghaus seine Frau. »Früher hast du das einmal in der Woche gemacht.«
»Als du noch selbst geschlachtet hast, ich erinnere mich«, sagte Isabel angewidert.
»Herrlich!«, jubilierte Heinrich, ohne auf den Kommentar seiner Tochter einzugehen.
»Was zum Teufel ist denn Möppkenbrot?«, fragte Jan leise.
»Der Herr«, antwortete eine der Mägde, die neben ihm ein Tablett auf der Tafel abstellte. »Möppkenbrot ist eine westfälische Blutwurst. Sie besteht aus Blut- und Schwartenmasse, Speck, Fettfleisch und wird mit Roggenschrot angedickt. Außerdem enthält sie fein gehackte Innereien. In der Grundmasse überwiegt jedoch Blut.«
»Lecker.« Jan musste einen Würgereiz unterdrücken.
»Jetzt reiß dich zusammen, Jan!« Sein Vater warf ihm einen indignierten Blick zu.
Trotz seiner Vorbehalte probierte Jan vom Wurstebrei und musste zu seiner Überraschung feststellen, dass das alles andere als ansprechend aussehende Gericht gar nicht mal so schlecht schmeckte. Erinnerungen an seine Kindheit stiegen in ihm hoch. Wurstebrei war kein Essen, das kleine Kinder gerne aßen, dennoch hatte sich der unverkennbare Geschmack unwiderruflich in ihm
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