Westwind aus Kasachstan
es um das Vaterland und nicht um Wodka! Was heißt, im Geschichtsunterricht geschlafen? Wir Russen wuchsen immer über uns hinaus, wenn es galt, Mütterchen Rußland zu beschützen. Von den Tataren angefangen bis Napoleon, und natürlich Hitler. Wie kann man Wodka mit Rußland vergleichen?«
»Rußland und Wodka gehören zusammen!« rief ein junger Oberleutnant lustig. »Was würde der Alte machen, wenn er mich mit einer Flasche erwischt?«
»Degradieren und in ein Straflager verbannen.«
»Ich denke, es gibt keine Straflager mehr?«
»Wer das glaubt, ist ein Träumer.« Ein Major mit drei Verdienstorden auf der Brust legte den Zeigefinger auf die Lippen. Er war einer der ersten gewesen, der ausgerufen hatte: »Auf Gorbatschow hat Rußland fast hundert Jahre gewartet!« Jetzt, einige Jahre nach der Reform der Partei und der sowjetischen Gesellschaft durch Glasnost, was Offenheit und Transparenz heißt, gehörte er zu den Offizieren, die Boris Jelzins kompromißlosen Ideen mehr Vertrauen schenkten als Gorbatschows glatter und doch vertrauensseliger Diplomatie. »Nein, es gibt keine Straflager mehr. Sie heißen nur anders. Schemskow ist noch ein Mann von gestern. Von ihnen gibt es Hunderttausende. Rußland ist keine Jacke, die man einfach umkrempeln kann. Warten wir ab, wie es in einem Jahr aussieht.«
Das war Kirenskija über der Erde. Unter der Erde sah es ganz anders aus. Hier zerriß die Stille, die Lautlosigkeit die Nerven. Innerhalb der meterdicken Betonmauern arbeiteten 176 Wissenschaftler in sterilen weißen Kitteln. Das einzige Ziel ihrer Forschung: Die Atomkernspaltung zu vervollständigen und neue chemische Kampfstoffe zu entwickeln. Gifte, Gase und Bakterien, die, in Bomben und Granaten gefüllt, den Gegner auslöschten. Der Abbau der Atomwaffen war eine fast sichere Tatsache. Dafür ging die Entwicklung der höllischen C-Waffen – C für chemisch – unter größter Geheimhaltung weiter. Nicht nur der amerikanische CIA ahnte von diesen unbekannten Forschungsstätten, auch die Abteilungen Wirtschaftsspionage und militärische Abwehr des sowjetischen KGB suchten nach den versteckten Labors. Der dauernde Frieden, den sich die Politiker versprachen, alle Neuerungen zum Guten, alle Reformen, so vernünftig sie auch waren, machten im Grunde mißtrauisch.
Die Stadt Kirenskija war auf einen Befehl von Breschnew erbaut worden, zu einer Zeit also, als sich die beiden Blöcke Ost und West lauernd gegenüberstanden und ihre Armeen aufrüsteten mit Waffen, die einen Krieg am Firmament führen konnten. Der unsichtbare, schleichende Tod von Millionen Menschen durch die C-Waffen war die letzte Stufe der Vernichtung, das Teuflischste, was sich ein Menschenhirn ausdenken kann.
Andrej Valentinowitsch Frantzenow war ein stiller, angenehmer, freundlicher und beliebter Mann. Er wurde nur leidenschaftlich, wenn er sich im Fernsehen Fußballspiele ansah und dann die Spieler beschimpfte.
»Was sagt er da? Was sagt er? Er wagt es, Interviews zu geben? Dämlich und frech, das ist die richtige Mischung!« rief er etwa aus, wenn seine Mannschaft verloren hatte. »Macht ein Foul, provoziert einen Elfmeter, und den kann natürlich auch Sascha nicht halten! Fedja, hörst du, was der Schwachkopf jetzt sagt? Behauptet, sein Bein sei von selbst in die Höhe gegangen und habe den Gegner getreten! Das kann man doch nicht aushalten! Raus aus der Mannschaft, raus! Und er lächelte auch noch dabei! Warum gibt der Moderator ihm keine Ohrfeige? Millionen würden Beifall klatschen!«
Frantzenow bewohnte eine ganze Etage der neuen vierstöckigen Fertighäuser, drei Zimmer und Küche, mit einem Bad und einem großen Balkon mit Blick auf das zerklüftete Gebirge. Ihm ganz allein hatte man die Wohnung zugeteilt, er war einer der wenigen Privilegierten, die ihre Zimmer nicht mit anderen Menschen teilen mußten. Mit vierzig Jahren bereits hatte man ihn zum Professor ernannt, mit jetzt einundfünfzig Jahren war er der Leiter der Atomforschung in Kirenskija, immer wieder mit Orden geehrt, von allen Kremlherrschern empfangen, auch Gorbatschow und neuerdings sogar Jelzin fragten ihn in Atomfragen ab und zu um Rat – er war ein unentbehrlicher Mann für die russische Forschung geworden.
Mit einundfünfzig stand er in der Blüte seiner Jahre; ein Mann, den Frauen gutaussehend und faszinierend fanden. Er konnte vor Charme sprühen, machte Komplimente wie ein Süditaliener. Auch tanzte er gerne und erstaunlich leichtfüßig. Aber das alles war jetzt
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