Westwind aus Kasachstan
meisterhafter Kopfschuß. Mitten in die Stirn. Sliwka muß den Schützen gesehen haben, denn er hatte seine Pistole in der Hand.«
»Ich verstehe das nicht.« Frantzenow blickte nachdenklich zum Fenster seines Krankenzimmers. »Wider alle Logik muß ich meinen Verdacht revidieren.«
»Sie haben einen Verdacht, Professor?«
»Jetzt ist er absurd geworden. Der Mordversuch hatte politische Motive.«
»Ich verstehe nicht …«
»Über einen Mittelsmann hat mir der Iran ein Millionenangebot gemacht, wenn ich nach Teheran flüchte und dort mein Wissen zur Verfügung stelle. Der Iran will eine Nuklearmacht werden. Ich habe kategorisch abgelehnt. Die Antwort war der Mordanschlag.«
»Und der erste Anschlag war aus dem gleichen Grund?« Bergerow spürte ein Kribbeln im ganzen Körper. Er kannte das Gerücht, daß schon vier Atomwissenschaftler aus Kasachstan nach Teheran gebracht worden seien und mit ihnen sogar zwei Atomsprengköpfe. Die Behörden in Alma-Ata dementierten energisch das Gerücht, aber keiner glaubte ihnen. »Entweder den Iran, oder Sie sind tot?«
»Das habe ich auch geglaubt.«
»Und jetzt nicht mehr? Professor, Sie kennen doch den Unterhändler. Sie können ihn identifizieren. Erzählen Sie alles der Polizei. Sie kennen doch seinen Namen.«
»Ja.«
»Wer ist es?«
»War es!« Frantzenow holte mit einem Pfeifton Luft. »Sliwka.«
»Mein Gott!« Bergerow schlug die Hände zusammen. »Sie glauben, Sliwka hat auf Sie geschossen?«
»Jetzt nicht mehr. Er ist ja selbst erschossen worden. Aber er war der einzige, der einen Grund hatte, mich zu töten. Wer hat ihn umgebracht? Und warum? Ewald Konstantinowitsch, hier ist etwas ganz faul.«
Bergerow blickte Frantzenow fast herausfordernd an. »Warum gehen Sie nicht fort, Professor? Begleiten Sie Weberowsky nach Deutschland? Was hält Sie noch in Rußland?«
»Meine Liebe zu diesem Land.« Frantzenow stemmte sich mit der Krücke hoch und humpelte zum Fenster. »Verstehen Sie das?«
»Nein.«
»Ich beginne auch daran zu zweifeln. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Aber die Gespräche mit Wolfgang haben mir die Augen geöffnet. Ich bin plötzlich gespalten, bestehe aus zwei Personen: Hier der Russe, dort der Rußlanddeutsche. Und die Schüsse auf Wolfgang und auf mich überzeugten mich, daß es ganz und gar unwichtig ist, ob ich Rußland liebe. Ich scheine zu einem Objekt des Kampfes um die Weltmacht geworden zu sein. Ich weiß jetzt wirklich nicht, wie ich mich verhalten soll.« Frantzenow humpelte vom Fenster zurück in das Zimmer und setzte sich auf das Bett. »Noch kann ich mich von Rußland nicht losreißen, noch nicht. Ich müßte erst Rußland hassen lernen, und das wird nie sein.« Er legte sich vorsichtig hin und hob sein linkes Bein auf das Bett. »Haben Sie Erna angerufen?«
»Den Pfarrer von Nowo Grodnow.«
»Ja, das hätte ich mir denken können. Zu einem richtigen deutschen Dorf gehört eben ein Pfarrer. Als junger Kommunist habe ich die Pfarrer und Popen für religiöse Idioten gehalten, für Himmelskomiker. Noch Jahre später habe ich nicht einen Gedanken an die Kirche verschwendet. Da sah ich nur das Atom! Und jetzt …« Frantzenow starrte an die Decke und ließ die Krücke neben sein Bett fallen. »Wie sich alles ändert! Als ich Wolfgang aus dem See zog, habe ich innerlich gebetet: Gott, mein Gott, laß ihn leben! Gott, laß nicht zu, daß er in meinen Armen stirbt. Können Sie sich das vorstellen?«
»Ja.«
»Ich nicht. Ich wundere mich über mich selbst.«
»Sie machen ein große Wandlung durch, Andrej Valentinowitsch. Sie kehren zurück.«
»Wohin?«
»Zu Ihrem Ursprung.«
»Das war die Partei.«
»Nein. Das war das Dorf, in dem die Familie Frantzenow wohnte. An der Wolga. Das Dorf mit den Sonnenblumenfeldern und den weißgrünen Birkenwäldern.«
»Ich habe kaum noch eine Erinnerung daran.«
»Sie wird wiederkommen, sie liegt in Ihrem Herzen. Und ich weiß, daß Sie sie suchen werden.«
Der Abend kam. Frantzenow hatte das Licht noch nicht eingeschaltet. Er war allein, lag noch immer auf dem Bett. Bergerow war längst gegangen, aber seine Worte wirkten nach und ließen ihn nicht mehr los.
Es liegt in meinem Herzen, dachte er. Ich werde es suchen. Aber will ich es überhaupt finden? Ich bin jetzt einundfünfzig Jahre alt … zu spät, noch umzudenken? Ein anderer Mann bin ich geworden, von heute auf morgen, durch zwei Schüsse, die mir sagen müßten, wie unwichtig – oder zu wichtig – ich für diese Welt
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