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Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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gefunden?«
    »Ja. Auch er ist angeschossen. Oberschenkelschuß.«
    Jetzt erst schien Erna zu begreifen, daß es kein Unfall gewesen war. In ihren großen blauen Augen stand Entsetzen. »Sie … sie haben auf Wolferl geschossen?« stammelte sie. »Wer hat geschossen?«
    »Das weiß man noch nicht.«
    »Was sind das für Menschen? Wolferl hat nie jemandem etwas angetan, aber sie wollten ihn töten. Warum sollte er umgebracht werden?«
    »Das fragen sich alle. Man vermutet, daß es räuberische Nomaden waren.«
    »Gehen wir zu dir«, sagte sie und erhob sich von der Bank. »Ich kann jetzt nicht ins Haus gehen. Alles ist so, als wenn Wolferl gleich zur Tür hereinkommt und ruft: ›Erna, ich bin da! Was macht das Mittagessen?‹ Und neben seinem Bett stehen die geputzten Stiefel. Er wird sie nie wieder anziehen können. Nein, ich kann nicht ins Haus gehen.«
    Sie band die Schürze ab, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und zupfte ihr Kleid zurecht. Sie ist eine einmalige Frau, dachte Heinrichinsky. Ich habe so eine Frau noch nie erlebt. Sie weint nicht, sie klagt nicht. Sie stellt sich dem Schicksal mit einer Kraft, die bewundernswert ist.
    Im Pfarrhaus, einem kleinen Anbau hinter der Kirche, griff Heinrichinsky zum Telefon und rief in Atbasar an. Er verlangte den Bezirkssekretär und Abgeordneten Kiwrin und war erstaunt, wie schnell dieser an den Apparat kam. Meistens hieß es, Herr Kiwrin sei außer Haus.
    »Hör an, hör an«, sagte Kiwrin fröhlich. »Der Herr Pfarrer. Wenn Geistliche freiwillig anrufen, geht es um Geld. Aber wir haben keins. Wir müssen warten, bis neue Rubelscheine aus der Notenpresse kommen. Es wird fleißig gedruckt.«
    »Es ist etwas anderes, Michail Sergejewitsch. Ich muß Ihnen etwas mitteilen.«
    »Mit solchem Ernst? Ist Ihre Kirche abgebrannt? Auch dafür gibt es keinen Zuschuß, Ihre Dorfkirche ist Privatsache.«
    »Wolfgang Antonowitsch liegt in Ust-Kamenogorsk im Krankenhaus.«
    »Ha!« Kiwrin lachte auf. »Das mußte einmal so kommen! Alkoholvergiftung?«
    »Nein, Querschnittlähmung.«
    Einen Augenblick war es still. Kiwrin schien Mühe zu haben, die Antwort zu begreifen. Als er weitersprach, war ihm die Erschütterung deutlich anzumerken.
    »Was sagen Sie da? Wolfgang Antonowitsch hat einen Unfall gehabt?«
    »Nein. Auf ihn ist geschossen worden.«
    »Geschossen?« Man hörte, wie Kiwrin tief Atem holte. »Wer schießt denn auf Weberowsky? Die Beljakowa war es nicht, sie hat die Sowchose nicht verlassen. Haben Sie es Erna schon gesagt?«
    »Sie steht neben mir.«
    »Kann ich sie sprechen?«
    Heinrichinsky hielt ihr den Hörer hin. »Kiwrin«, sagte er dabei.
    »Hier bin ich, Michail Sergejewitsch«, sagte sie mit fester Stimme. »Ist das nicht fürchterlich … ein Schuß in den Rücken.«
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich sitze hier, und der Schweiß bricht mir aus. Erna, Sie müssen jetzt ganz stark sein.«
    »Ich bin stark. Wir fahren morgen nach Ust-Kamenogorsk.«
    »Ihr alle?«
    »Ja, und der Pfarrer auch.«
    »Und ich!« Kiwrin sagte es ganz impulsiv. »Ich komme auch mit, wenn ihr mich bei euch haben wollt.«
    »Wie können Sie da noch fragen, Michail Sergejewitsch.«
    »Ich bin es meinem Freund Wolfgang schuldig, daß ich bei ihm bin. Ich werde einen Bus besorgen, und wir fahren über Karaganda, Semipalatinsk nach Ust-Kamenogorsk. Mit der Bahn muß man ja mehrmals umsteigen. Überlassen Sie das mir, Erna, ich organisiere alles.«
    »Ich danke Ihnen, Michail Sergejewitsch.«
    »Morgen früh hole ich euch ab. Erna, seien Sie tapfer.«
    »Was bleibt mir anderes übrig?« Sie legte auf und wischte sich über das Gesicht. »Kiwrin besorgt einen Bus und kommt mit«, sagte sie zu dem Pfarrer.
    »Das ist Perestroika in seiner reinsten Form.« Heinrichinsky schüttelte den Kopf. »Wer hätte das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten? Der stolze, mächtige Kiwrin, der Khan von Atbasar, fährt über 800 Kilometer zu einem Rußlanddeutschen, um an seinem Bett zu sitzen. Was mit Rußland geschehen ist, stellt die Französische Revolution in den Schatten. Damals ging es um ein Land, um die Befreiung von einer morschen Monarchie, heute geht es um das Weiterbestehen unserer Welt, um die Befreiung von der Angst vor einem Atomkrieg.« Der Pfarrer blickte zu Erna. Plötzlich wurde ihm klar, daß solche Reden gerade jetzt völlig unpassend waren. Er schämte sich. »Verzeih, Erna«, bat er und legte den Arm um ihre Schulter. »Auch ich bin nur ein dummer Mensch. Du

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