Westwind aus Kasachstan
bin. Ich will nicht mehr.
Und dann dachte er daran, daß sein Schwager Weberowsky schon sechzig Jahre alt war und dennoch nach Deutschland auswandern wollte. Daß er mit sechzig Jahren sich einen Traum erfüllte, den er ein ganzes Leben lang mit sich herumgetragen hatte, ohne Hoffnung, ihn einmal zu Ende zu träumen. Und plötzlich sprangen die Tore auf, das Land seiner Sehnsucht lag frei vor ihm, eine neue Zeit hatte begonnen. Und er zögerte keine Stunde, durch die offenen Tore zu gehen.
Aber nun liegt er da, dachte Frantzenow. Bewegungslos für immer. Und er hört und sieht, wie seine Freunde, wie sein Dorf ihre Sachen packen und in das Land ihrer Vorväter ziehen, ein riesiger Menschenstrom, eine Völkerwanderung, ein Wind aus Kasachstan, der die Menschen wie reife Körner vor sich hertreibt. Und er liegt regungslos im Bett, muß gefüttert, gewaschen und versorgt werden wie ein Säugling. Nacheinander kommen sie ins Haus, treten an sein Bett, als die vertrauten Gesichter, mit denen er gelebt hat, und sie sagen: »Gott sei mit dir, Wolfgang Antonowitsch. Wir schreiben dir. Wir schicken dir eine Dose mit deutscher Erde. Vielleicht kannst du doch noch nachkommen. Mach's gut.« Und dann hört er, wie sie abfahren, und er beginnt zu weinen, das einzige, was er noch selbständig kann, wo ihm keiner zu helfen braucht.
Ich bringe dich nach Deutschland, dachte Frantzenow und fühlte sich nach diesem Gedanken befreit und leichter. Ich bringe dich und deine Familie in das Land deiner Hoffnung. Ich verspreche es dir. Ich lasse dich und Erna und die Kinder nicht allein. Du wirst dein Deutschland erreichen. Mein Gott, hilf mir dabei.
Es war selten, daß der Pfarrer Heinrichinsky als Besuch zu den Weberowskys kam. Meistens war Wolfgang zu ihm gekommen, und das war dann vor allem dienstlich als Dorfvorstand. Oder man sah sich in der Kirche, nach dem Gottesdienst. Dann stand Heinrichinsky draußen an der Tür und drückte jedem die Hand. Er lebte zurückgezogen, schrieb an einer Chronik der Geschichte der deutschen Kirche an der Wolga und in Kasachstan, aber wenn man ihn brauchte, kam er zu jeder Tages- und Nachtzeit. In Nowo Grodnow wußte man: Wenn der große Umzug in den Westen erfolgen sollte, unser Pfarrer wird an der Spitze marschieren und den Jesus am Kreuz mitnehmen, den vor fünfundvierzig Jahren der Dorftischler geschnitzt hatte. Denn erst war das Kreuz da und dann die Kirche. Sie wurde um Christus herumgebaut.
Erna harkte im Gemüsegarten hinter dem Haus Unkraut aus der Erde und richtete sich mit einem Ächzen auf, die Hand gegen den Rücken gepreßt. »Peter Georgowitsch«, sagte sie und stellte die Harke an einen Baum. »Komm mit ins Haus. Ich mache dir einen Tee. Oder ein Gläschen Beerenwein?«
»Ich möchte lieber draußen bleiben. Hast du Schmerzen, Erna?«
»Das Kreuz. Alt wird man halt, und das dauernde Bücken. Und Rheuma habe ich auch. Jetzt, wo Wolfgang nicht da ist, darf ich mal seufzen. Er soll ja nicht wissen, wie schwer mir die Arbeit fällt. Er sagt immer: Arbeit macht Spaß und hält jung. Aber ich spüre schon, daß ich fünfundfünfzig bin.«
»Setzen wir uns auf die Bank, Erna?« Heinrichinskys Stimme klang belegt, als habe er eine Halsentzündung. Er zeigte auf die Bank, die unter einem hohen Birnbaum stand und die Erna als Brautgabe mit in die Ehe gebracht hatte. »Heute ist die Luft so klar und rein.«
»Es wird Herbst.« Sie kam zur Bank, setzte sich und wischte sich die Hände an der Schürze ab, gab dem Pfarrer die Hand und nahm nicht wahr, daß seine Hand etwas zitterte.
»Einen schönen Garten hast du«, sagte er, nur um etwas zu sagen. »Ein gepflegter Garten.«
»Er macht auch viel Arbeit. Aber hinterher macht er auch viel Freude.«
»Du bist zäh, Erna, nicht wahr?«
»Ich habe mein ganzes Leben lang nur gearbeitet. Ich bin daran gewöhnt. Mir würde etwas fehlen, wenn ich keine Arbeit hätte. Ich wüßte nicht, was ich den ganzen Tag über tun sollte.«
»Könntest du dir denken, weniger zu arbeiten?«
»Könntest du dir denken, Peter Georgowitsch, am Sonntag ohne Predigt auf der Kanzel zu stehen?«
»Nein. Man erwartet von mir, daß ich predige.«
»Und man erwartet von mir, daß ich meine Arbeit tue.«
Sie sah Heinrichinsky aus treuherzigen Augen an. »Wolfgang arbeitet ja auch von früh bis zum Abend.«
Jetzt muß es sein, dachte Heinrichinsky. Jetzt muß ich es ihr schonend beibringen. Sie ist eine starke, mutige Frau. Sie wird nicht ohnmächtig werden.
»Was
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