When the Music's Over
Frau, die ihn mit ihren hungrigen Blicken abgrabschte? Beide begegneten ihm immer wieder – ihre Namen änderten sich, nicht jedoch der Ausdruck in ihren Augen. Also blieb er. Ein weiterer Fehler von vielen, vermutlich. Doch was änderte es jetzt noch?
Sie ließ sich von seinem Schweigen nicht irritieren. Mit einem leichten Lachen füllte sie die peinliche Pause.
»Ich habe dir noch nicht mal gesagt, wer ich bin. Tonia Sakamoto – du hast von Sakamoto Industries gehört.« Das war eine Feststellung, keine Frage.
Er hatte richtig vermutet. Sie war also »wichtig«. Aber der Umstand, dass die Frau zu den reichsten Leuten dieser Stadt, ja wahrscheinlich im ganzen Land gehörte, machte sie ihm auch nicht sympathischer. Sakamoto Industries hatte vor knapp drei Jahren das Label gekauft, bei dem die Runners zuletzt unter Vertrag gewesen waren. Und im Zuge einer »Neuorientierung« hatten sie ihnen den Deal gekündigt, und er hatte nicht mal mehr das Geld gehabt, um sich irgendeinen lausigen Anwalt zu besorgen. Jetzt saß diese Frau, die ein gut Teil der Verantwortung dafür trug, dass es mit den Runners nur noch bergab ging, in seiner Garderobe und versuchte ihn aufzureißen. »Verdammt, ist eben Showbusiness, Junge«, sagte er sich, »sei nett zu ihr, vielleicht ist sie dann auch nett zur Band.« Doch er wusste, dass er sich nur etwas vormachte, wieder einmal. Pierce wusste, wie man nett zu wichtigen Leuten war.
»Muss den Jungs beim Abbauen helfen«, murmelte er und bewegte sich wieder in Richtung Tür. »Hat mich gefreut, dich zu treffen.« Noch nie war ihm eine Lüge so glatt über die Lippen gegangen.
Draußen, auf dem engen Gang mit der kaputten Glühbirne, holte er einmal tief Luft. Irgendwie musste er den Jungs jetzt gegenübertreten. So tun, als wär dieser Gig das erste Anzeichen dafür, dass es mit der Band wieder vorwärts ging, schließlich waren sie für drei weitere Shows verpflichtet worden. Und irgendwie würde es damit enden, dass sich alle gegenseitig in die Tasche logen. Klar, es war nicht einer der Sahneclubs, aber es war immerhin in Europa und nicht in einem dieser Animierschuppen in einem namenlosen Boomstaat in Südostasien, oder? Doch bereits am nächsten Abend brach der Himmel über ihnen ein.
Er sah es kommen. Kaum standen sie auf der Bühne, spürte er sie. Es waren diese unterschwelligen Schwingungen, die er nur zu gut zu deuten gelernt hatte. Blue stand isoliert in der Lichtinsel des Punktscheinwerfers – Jeans, weißes T-Shirt und schwarze Lederjacke, das berühmte Loner-Outfit. Und sang mit diesem verlorenen Gesichtsausdruck, der keine Masche war, die Eröffnungsnummer: »Running Wild« – das Mantra der Bladerunner.
Tonia Sakamoto war auch da. Den Backstagepass wie eine Trophäe an einem der zahlreichen Reißverschlüsse ihres Latex-Overalls befestigt. Sie sah aus wie der teuerste Fick in der Stadt. »Und du bekommst mich ganz umsonst«, sagte ihr Körper, als sie seine Blicke bemerkte. Blue tänzelte zur anderen Seite der kleinen Bühne, es war Zeit für Shells Solo. Auch er hatte Tonia gesehen – wer hätte es nicht – und spielte nur für sie. Toto bleckte die Zähne zu einem Grinsen und schlenderte zu Blue.
»Wer ist sie?«
»Sakamoto, die Firma, die unseren Vertrag gekauft hat.«
»Scheiße.«
Blue ging zum Mikro und sang:
»Don’t leave me tonight
Don’t leave our love behind,
Lie to me, darling, but please don’t go.
Wrap yourself around me,
Velvet shadow, hold me tight«
– die Schlusszeilen ihres ersten Hits. Pierce hatte den Text mit ihm zusammen geschrieben. Shells Stratocaster dehnte das »hold me tight« zu einem kreischenden Aufschrei nach Liebe in Cmaj7 und E-Dur. Es war immer noch ein verdammt starker Song, nach all den Jahren. Warum nur, Pierce – warum musstest du immer den ganzen Weg gehen, dich für immer in die samtschwarzen Schatten einwickeln?
Der erste Set war zu Ende. Früher wären sie jetzt hinter die Bühne, in ihre Garderobe gegangen. Doch früher gab es auch noch Roadies, die auf das Equipment aufpassten. Früher hatten sie auch das Digital Sound System von Sony und einen Power-Mac 20100 zum Lichtmischen und einen Drummer, keine billige Maschine, die den Sound versaute. Früher, da hatten sie Erfolg – und ihr Drummer hieß Pierce.
»– und hat sie auch die Band gekauft, Blue, und du hast vergessen, es uns zu erzählen?« Toto zeigte mit dem Kinn auf die Frau.
»Ja, sag an, Mann, hat sie?« Shell leckte sich die Lippen, ohne
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