When the Music's Over
treffen, und diesmal würden sie nicht auf Tante Clara-Susanna Della Rosa hören, sollte sie wieder einmal anderer Meinung sein. In Hamburg hatten sie zwei Truhen mit Kostümen an die Flut verloren, nur weil sie zu lange mit der Abreise gewartet hatten. Den Jungen hatten sie auch verloren, doch Luciu war sicher, eines Tages würden sich ihre Wege wieder kreuzen.
Carlotta war vor zwei Monaten zu der Truppe gestoßen. Sie war in einem anderen Leben Tänzerin in einem Striplokal gewesen, doch das hatte sie nur Luciu erzählt. Alfredo und Paolo waren von Carlotta begeistert. Tante Clara-Susanna, wie konnte es anders sein, hasste sie. Doch seit Carlotta bei ihnen war, hatten sie nach langer Zeit wieder mehr zahlendes Publikum. Und dem hatte selbst die Tante nichts entgegenzusetzen.
Er hatte beim Zelt von dem Wettbewerb gehört. Sie waren erst vor drei Tagen in die Stadt gekommen, und Alfredo und Paolo waren zum Direktor gegangen, um die Gebühr für ihren Auftritt auszuhandeln. Luciu stand auf dem leeren Vorplatz und fröstelte, eigentlich hatte er nicht viel mehr zu tun, als auf die Ausrüstung zu achten. Diebe gab es überall, auch unter dem fahrenden Volk, und der viel gepriesene Ehrenkodex galt schon längst nicht mehr. Deshalb griff er automatisch zu seinem Springmesser, als ihn eine Stimme aus der nebligen Dämmerung unverhofft ansprach.
»Ho, ho. Luciu. Du willst doch einen alten, na ja, Saufkumpanen nicht einfach aufschlitzen!«
»Barbo, bist du das – warum drückst du dich da im Gebüsch rum?«
»Ich schulde dem Direktor noch Geld, oder einen Auftritt. Hab mich noch nicht, na ja, entschieden, ob ich bleiben oder gehen soll.«
Ein untersetzter Mann mit einem breiten, zahnlückigen Grinsen trat ins flackernde Licht der Reklametafel »Komming Attraktions« und schlug Luciu freundschaftlich auf den Rücken.
Barbo war Feuerschlucker und Dompteur. Doch eines Nachts hatte jemand – selbst ernannte Tierfreunde vermutlich – die Käfige geöffnet, und seine Löwen waren fortgelaufen. Barbo sorgte sich sehr um »seine Kleinen« – wie sollten sie in Freiheit an ihre Soja-Steaks kommen? Eines Tages würden ein paar Verrückte eine Treibjagd auf sie veranstalten, und er würde es nicht einmal erfahren, weil er gerade unterwegs war.
»Und, wie geht es der, na ja, Royal Shakespeare Company?«
»Theater Truppe«, verbesserte Luciu milde. »Wir schlagen uns durch.«
»Tun wir das nicht alle?«, erwiderte Barbo philosophisch. »Habt ihr ein Engagement im Zelt?«
»Sie verhandeln noch.« Luciu zuckte mit den Schultern. »Der Direktor will jedes Mal mehr. Alle wollen sie immer mehr, und dabei wissen wir kaum, wie wir die nächsten Monate über die Runden kommen sollen.« Luciu merkte, dass er jammerte, und verstummte abrupt. Was hatte es für einen Sinn, den gutmütigen Barbo voll zu quatschen?
»Und wie geht es der werten Tante, immer noch so, na ja, durchgedreht wie ein Sack voller Springmäuse?«
»Schlimmer.«
»Ja, ja so ist das wohl.« Barbo trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, wie er den Freunden helfen konnte. Warum war er nur immer so langsam im Denken? »Warum kommt ihr nicht nachher auf ein Schlückchen bei mir vorbei?«, sagte er schließlich. »Ich hab mein, na ja, Quartier bei der Witwe des Boxers aufgeschlagen.«
»Der Witwe des Boxers, hm?« Luciu lachte. »Wärmst du ihr immer noch das Bett?«
Barbo errötete und starrte zu Boden. »Man tut, was man kann.«
»He, schon gut, Mann«, Luciu schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken, »und danke für die Einladung.«
Die Forderungen des Direktors waren so unverschämt gewesen, wie sie befürchtet hatten. Dennoch hatte Alfredo von übermorgen an gerechnet für eine Woche abgeschlossen. Damit blieben ihnen zwei Tage, um ihre Handzettel in der Stadt zu verteilen.
Am gleichen Abend noch waren er und Carlotta zu Barbo und der Witwe des Boxers gegangen. Ein seltsames Paar waren die beiden schon – der robuste, gutmütige Feuerschlucker und sie so klein und zart, als könnte sie bereits ein leichter Windstoß umpusten, und doch voller Energie. Die Witwe des Boxers – ihr Name war Susi, doch in der Öffentlichkeit kannte man sie als Madame Esmeralda, die berühmte Wahrsagerin mit zufriedenen Klienten auf – man bedenke – sechs Kontinenten. Natürlich hatte Madame Esmeralda nie ihre zierlichen Füße auf das Schelfeis von Antarctica gesetzt, doch wer würde es wagen, das Gegenteil zu
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